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"Unter dem IS gab es in Raqqa keine Verbrechen"

Ein Besuch in seiner einstigen "Hauptstadt" Raqqa zeigt, dass der "Islamische Staat" dort noch lange nicht vertrieben ist.

13.09.2021, 20:03
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Der IS ist in Raqqa omnipräsent. An Wänden und Läden prangt sein berüchtigtes Emblem, alte Graffitis von IS-Kämpfern preisen seine Herrschaft. Viele Frauen tragen noch immer einen doppelten Nikab: Über die verhüllten Augen lassen sie einen Schleier fallen, so wie es unter den Extremisten Gesetz war. Es gibt weitere, weniger augenscheinliche Zeichen dafür, wie stark sich der IS in die Köpfe der Menschen von Raqqa gegraben hat. So fällt auf, dass in den Räumlichkeiten des arabisch dominierten Stadtrates nicht geraucht wird – und das in einer Region, in der das Rauchen in allen öffentlichen Räumen zum guten Ton gehört. Offensichtlich hallt das mit Peitschenschlägen durchgesetzte Rauchverbot der Extremisten hier noch nach.

Videoaufnahmen aus der zerbombten syrischen Stadt Raqqa. (Video: Tamedia/Storyful)

Einige machen kein Geheimnis daraus, dass sie der IS-Herrschaft nachtrauern: "Unter dem IS war Raqqa sicher und es gab keine Verbrechen", sagt ein Mann, bevor er hinzufügt: "Aber es waren schlechte Leute." Er ist in Raqqa bei weitem nicht der Einzige, der das so sieht. Plätze haben ihre Unschuld verloren 200.000 Menschen lebten vor der IS-Herrschaft in Raqqa, jetzt sind es wohl kaum mehr als 70.000. Trümmer, Schutt und verschüttete Leichen erinnern jene, die geblieben oder zurückgekehrt sind, täglich an die opferreiche Rückeroberung der Stadt. Der Terror der Islamisten scheint vor dieser deprimierenden Kulisse in den Hintergrund zu treten. Viele machen die Anti-IS-Koalition und ihre unpräzisen Luftschläge für die Tausenden zivilen Opfer verantwortlich. Oktober 2017: Anti-IS-Allianz erobert Raqqa zurück

Mittlerweile sind in Raqqa zwar alle Hauptstraßen, öffentlichen Gebäude und die Mehrheit der bewohnten Häuser von Sprengfallen und Minen geräumt. Aufbruchstimmung scheint dennoch keine aufzukommen. Nicht nur wegen der immensen Verwüstung. Sondern auch, weil viele traditionelle Plätze der Stadt ihre Unschuld verloren haben: Auf dem Al Naim (arabisch für Paradies) wurden während drei Jahren Köpfe abgeschlagen und auf den Metallornamenten des Kreisels aufgespiesst. Am Glockenturm-Platz wurden Menschen erschossen und gekreuzigt. Unheimliches Sportstadion Schwere Schatten liegen auch auf öffentlichen Gebäuden wie dem Sportstadion: Die IS-Extremisten nutzten es bis zuletzt als Gefängnis. Gymnastikräume funktionierten sie zu Folterkammern um. Die von der Decke hängenden Stricke nutzten sie nicht für sportliche Aktivitäten. WCs wurden zu Gefängniszellen. Kritzeleien an den Wänden, die meisten auf Arabisch, einige auf Türkisch oder Russisch, geben Auskunft darüber, wer weswegen und wie lang schon hier sass. In einer Ecke steht eine zusammengezimmerte Box. In diese zwängten die IS-Sadisten jene, die exekutiert werden sollten. Graffitis in den Gängen des Stadions machen deutlich, wer hier wie regierte: "Der Staat des Kalifats" oder "Wir kommen, um euch Alawiten zu köpfen". Vier IS-Anschläge im Juni Seine IS-Vergangenheit schüttelt Raqqa weder schnell noch einfach ab. Die Bewohner der vom arabisch dominierten Raqqa Civil Council und den kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) verwalteten Stadt sind unzufrieden. Sie klagen über neue Steuern und Korruption und stehen den Kräften der SDF eher ablehnend gegenüber. Auch davon profitiert letztlich der IS. Längst haben seine Schläferzellen die Stadt infiltriert. Neue Attacken sind die Folge: Erst Ende Juni starben 20 Soldaten der SDF bei vier verschiedenen Anschlägen. Aktivere Schläferzellen beeinflussen Frontkampf Das beeinflusst die Strategie der SDF an der Front rund um Deir ez-Zor, die Wüstenregion, in der sich der IS noch mit rund 5000 Kämpfern verschanzt hält. "Die Kämpfe in Deir ez-Zor haben direkten Einfluss auf Raqqa", sagt Mustafa Bali, Sprecher der SDF. "Sie bewegen ihre Schläferzellen seit letztem Monat, vor allem in den letzten 20 Tagen. Wir haben keine andere Wahl, als die Front in Hadjin ruhen zu lassen, damit wir uns um die IS-Schläferzellen in Raqqa kümmern können." Der IS sei "nicht nur Waffen, Kämpfer und Selbstmordkommandos", sagt Bali. "Der IS ist ein ideologisches System. Er hat sich seit Jahrzehnten auf diesen Krieg vorbereitet, unter verschiedenen Namen, an verschiedenen Orten. Um diese Leute aus der Gesellschaft vertreiben zu können, braucht es viel Zeit, Bildung und Aufklärungsprojekte."