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"Muss ich mich mit einem sexlosen Leben abfinden?"

Heute Redaktion
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Bild: iStock

Mauro findet keinen Zugang zur körperlichen Liebe. Jede Form von körperlicher Nähe bereitet ihm Stress, Berührungen lassen ihn zusammenzucken. Was tun?

Frage von Mauro (24) an Doktor Sex: In meiner Kindheit wurde ich über Jahre sexuell missbraucht. Nun merke ich, dass mir Sex keine Freude bereitet. Im Gegenteil: Mich stresst alles, was mit diesem Thema zu tun hat. Leider ist da aber eine Frau in meinem Leben aufgetaucht, die ich über alles liebe. Was den Sex angeht, hat sie jedoch keine Chance. Bei jeder Berührung zucke ich zusammen. Wenn es um körperliche Nähe geht, fühle ich mich eigentlich nur gestresst. Und das ist für unsere Beziehung schlecht. Ich weiß nicht mehr weiter. Soll ich alles beenden und mich damit abfinden, dass Sex nie zu mir und meinem Leben gehören wird, obwohl ich doch von Herzen lieben kann?

Antwort von Doktor Sex



Lieber Mauro

Gib nicht auf. Die Möglichkeit, trotz der Kindheitserlebnisse körperliche Intimität und eine erfüllende Sexualität leben zu können, besteht auch für dich. Dein Weg dorthin wird aber möglicherweise nicht ganz einfach sein. Ich empfehle dir deshalb, dich in diesem Prozess mindestens teilweise von einer Fachperson begleiten und unterstützen zu lassen.

Missbrauchs- und Gewalterfahrungen, können sich bei einem Menschen auf mehreren Ebenen seiner physischen und psychischen Existenz unterschiedlich intensiv einprägen. Dementsprechend, sind sie dem Bewusstsein des oder der Betroffenen mehr oder weniger zugänglich. Gerade Erlebnisse, die in der Kindheit und damit in einer Zeit des Lebens stattfinden, die weitgehend unbewusst ist, bleiben oft in erster Linie als "Körpererinnerung" zurück. Daher sind sie auch für alle therapeutischen Interventionen, die ausschließlich auf der kognitiven Ebene ansetzen, kaum oder überhaupt nicht erreichbar.

Wichtig scheint mir deshalb, dass du dir ein therapeutisches Setting suchst, welches auch auf der körperlichen Ebene einen Zugang zu deiner Vergangenheit ermöglicht.

Ein Ansatz, der sich in der Traumatherapie bewährt hat, ist Somatic Experiencing. Damit wird versucht, das traumatische Ereignis primär körperlich, sekundär aber auch kognitiv auf- und neu zu verarbeiten. Entscheidend ist dabei nicht das Ereignis an sich, sondern die Reaktionsweise des Nervensystems und wie dessen physiologische Regulationskräfte mit der als bedrohlich wahrgenommenen Situation fertig geworden sind.

Gemäß der Theorie von Somatic Experiencing entsteht ein Trauma, wenn bei Überreizung des Nervensystems der ursprünglich natürliche Zyklus von Orientierung, Flucht, Kampf und Immobilitäts-Reaktion nicht vollständig durchlaufen oder gar nicht erst zustande kommen kann. Dies kann dazu führen, dass die vom Körper im Alarmzustand bereit gestellte Überlebensenergie vom Nervensystem nur unvollständig oder verzögert aufgelöst wird. Der Organismus reagiert in der Folge weiterhin auf die Bedrohung der Vergangenheit, obschon sie real gar nicht mehr existiert. Für die Betroffenen entstehen dadurch oft verwirrende und auch beängstigende psychische und somatische Symptome, welche sich manchmal erst Jahre später zeigen.

Dass du zusammenzuckst, wenn du berührt wirst, aber auch, dass du in Zusammenhang mit Nähe vor allem Stress empfindest, könnte ein Zeichen dafür sein, dass bei dir eine solche "neuronale Endlosschlaufe" im Gang ist.

(wer)