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Apps zeigen in Echtzeit, wo in Rio die Kugeln fliegen

Die Gewalt in Rio hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Deshalb schwören Hunderttausende auf Apps, die über Schießereien in Echtzeit informieren.

Heute Redaktion
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In Rio de Janeiro liefern sich Polizei und Drogengangs täglich erbitterte Gefechte.
In Rio de Janeiro liefern sich Polizei und Drogengangs täglich erbitterte Gefechte.
Bild: picturedesk.com/APA

In wenigen Tagen beginnt in Rio de Janeiro der Karneval. Dieses Jahr steht "das größte Spektakel auf Erden", wie Rios Bewohner, die Cariocas, die Mega-Party in aller Bescheidenheit nennen, im Zeichen der Gewalt: Allein im vergangenen Monat verzeichnete die brasilianische Metropole 688 Schießereien zwischen Polizei und Drogengangs. Ein Rekordwert.

Die fast kriegsähnlichen Zustände zwingen die Cariocas, sich vor Querschlägern zu schützen – mit Apps, die ihnen auf dem Handy nahezu in Echtzeit Schießereien und Polizeieinsätze anzeigen. Onde teim Tiroteios? (Kurz OTT: Wo wird geschossen?) oder Fogo Cruzado (Kreuzfeuer) heißen die meist benutzten.

Für sich und für andere schauen

"Ich checke die App täglich, am Tag und in der Nacht", sagt OTT-Nutzer Thiago Frazão Pappacena zu 20 Minuten. Meistens wolle er wissen, ob sich allenfalls eine gefährliche Situation auf seinem Weg durch die Stadt abspielt. Aber nicht nur: "Ich schaue auch nach, ob Gefechte in der Nähe der Wohnorte meiner Familie oder meiner Freunde stattfinden. Dann markiere ich sie auf der Facebook-Seite der App, damit sie vorgewarnt sind."

Er selber sei schon zu Hause geblieben, weil OTT ihn über eine Schießerei in seiner Gegend alarmiert habe. "Die Informationen, die sie verbreiten, sind vertrauenswürdig. Und außerdem werden gefährliche Situationen rasch erfasst", sagt Pappacena.

Die Meldungen geben in den meisten Fällen registrierte User selber durch. Beide Apps bieten die Möglichkeit, Gefechte via E-Mail oder Formular einzutragen. OTT hat inzwischen über 489'000 Abonnenten auf seiner Facebook-Seite, Fogo Cruzado über 15'000 User.

Es wird "normal", nicht auszugehen

Sein Vater sei schon mal Opfer eines brutalen Überfalls geworden, erzählt der Brasilianer. "Vor sechs Monaten fuhr er auf der Linha Amarela (Anm. d. Red.: Die sogenannte Gelbe Linie ist eine der wichtigsten Durchgangsstraßen in Rio de Janeiro), als zwei Kriminelle auf einem Motorrad ihn aufforderten, anzuhalten. Als er sich weigerte, schossen sie mehrmals auf ihn. Eine Kugel durchschlug eine Hand und einen Arm und landete schließlich zwischen seinen Rippen."

"Mittlerweile geht es ihm wieder gut, aber es zeigt, wie sich Rio zum Schlechteren entwickelt", so Frazão Pappacena weiter. "Ehrlich gesagt habe ich die Stadt noch nie so gefährlich erlebt wie derzeit." Bei vielen Cariocas gelte es heutzutage "als normal, nicht auszugehen oder nicht an gewisse Orte zu fahren, weil es gefährlich werden könnte."

Ihm zufolge sei dies besonders nach den Olympischen Spielen von 2016 spürbar geworden. Der Anlass habe Rio in den finanziellen Ruin gestürzt, beklagt Pappacena, der als Software-Entwickler arbeitet. "Die Stadtbeamten erhalten ihr Gehalt nicht, auch Polizisten sind betroffen." Einige würden sogar Waffen an Drogengangs in den Favelas, den Armenvierteln Rios, vermieten, um ihre Löhne aufzubessern. "Wegen mangelnder Wartungsarbeiten stehen auch die Hälfte der Polizeiautos nicht mehr im Einsatz." Mit Rio gehe es nur noch bergab, ist sein trauriges Fazit.

(red)