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Bin ich kaufsüchtig?

Redakteurin Gina Buhl liebt ausgedehnte Shoppingtouren, bestellt wöchentlich online und ist Ende Monat oft knapp bei Kasse. Ist das noch normal?

Heute Redaktion
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Und dann bin ich an der Reihe: "Hallo, ich heiße Gina. Bei mir hat es angefangen, als ich mit 16 mein erstes eigenes Geld verdient habe." Ein Nicken von rechts. Meine Stimme zittert leicht. Es ist Mittwochabend in Aarau. Auf dem Tisch vor uns steht eine Glasschale mit Schokolade und Kugelschreibern mit der Aufschrift "Selbsthilfezentrum AG". Wir sind fünf Frauen beim ersten Treffen der ersten Selbsthilfegruppe für Kaufsucht in der Schweiz.

Ich bin hier, weil ich mich seit Wochen für diesen Text mit dem Thema Kaufsucht auseinandersetze – und weil ich herausfinden möchte, ob auch ich Hilfe benötige. Bei mir sind es Klamotten, die ich mir ständig neu kaufe, bei den anderen Schmuck, Beauty-Artikel oder Bastelzubehör. Was die Frauen erzählen, ist schlimmer, als ich erwartet hatte. Eine etwa hat schon zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Pfändungen, eine zerrüttete Ehe, quälende Schuldgefühle. Sie konnte nicht mehr. Dass Shoppen tatsächlich ein Leben zerstören kann, wird mir an diesem Abend mehrmals vor Augen geführt.

Jeder 10. Österreicher ist kaufsüchtig

Elf Prozent der Österreicher leiden an Kaufsucht. Jeder dritte hat eine Tendenz zu unkontrolliertem Kaufen, wie eine Studie der Arbeiterkammer (AK) Wien ergeben hat. Zum Vergleich: Heroinabhängig sind gerade mal zwei Prozent der Bevölkerung. Trotzdem sprechen wir viel öfter über Probleme mit Drogen als über zwanghaftes Kaufen. Natürlich würden wir eine Freundin darauf ansprechen, wenn wir ihren Alkoholkonsum problematisch fänden. Ihre Shopping-Exzesse? Muss sie selber wissen.

Nicht ernst genommen

Diese gesellschaftliche Verharmlosung von Kaufsucht bestätigt auch Renanto Poespodihardjo, Psychologe für Verhaltenssucht an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel: "Wer bei Google mit dem Stichwort 'Heroinsucht' nach Bildern sucht, findet Elend, Leid und Zerfall. Bei der Suche nach 'Kaufsucht': Bilder von fröhlich bunten Einkaufstüten. Das Thema wird noch immer als völlig unproblematisch wahrgenommen."

Unproblematisch fand auch ich es, wenn ich abends regelmäßig die Online-Shops nach neuen Teilen durchforstete und sie dann mehrmals im Monat abwechselnd zu mir oder meiner Mama nach Deutschland bestellte. Wenn ich mir das fünfzehnte schwarze T-Shirt kaufte, weil es sich meiner Meinung nach von den anderen vierzehn in meinem vollgestopften Kleiderschrank gravierend unterschied. Auch die vielen Wochenendtrips, bei denen ich das Ziel nicht nach Sehenswürdigkeiten, sondern nach Shoppingmöglichkeiten ausgewählte hatte, kamen mir völlig harmlos vor. Ich liebe eben Mode.

"Eine Kaufsucht kann auch im Zusammenhang mit einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik entstehen»" erklärt mir der Verhaltenspsychologe am Telefon. "Wenn man mit dem Stylen und Kombinieren von Farben und Accessoires andere positive Emotionen oder soziale Beziehungen ersetzt, kann das zu einer Abhängigkeit führen." Ich muss mich anstrengen, ihm weiter halbwegs zuzuhören.

Mir fallen die Diskussionen mit meinem Freund ein, der versucht, mir die T-Shirts auszureden. Der Blick meiner Mutter, der «Schon wieder?» fragt, wenn ich neue Pakete abhole. Der Psychologe spricht weiter: "Wie bei anderen Süchten stehen auch bei Kaufsucht oft Stress, fehlende Anerkennung oder Einsamkeit im Zentrum. Das aktiviert den Mechanismus." Seine Worte treffen mich wie eine Ohrfeige: Bekomme ich irgendwie nicht mit, wie schlecht es mir geht?

"Kleider machen Leute", hat meine Mama immer zu mir gesagt. Auch toll (aber nicht von meiner Mama): "Mach dich hübsch, dann wirst du gemocht." Besonders für Frauen gelten diese ungeschriebenen Regeln. "Tatsächlich sind doppelt so viele Frauen von Kaufsucht betroffen wie Männer", bestätigt auch Soziologin Verena Maag, die 2003 die bisher einzige Befragung zum Kaufverhalten der Schweizerinnen und Schweizer durchgeführt hat. Dass die letzte Erhebung – trotz der vielen Betroffenen – 16 Jahre zurückliegt, finde ich fatal. "Für eine neue Studie fehlt leider das Geld", so Verena Maag. Ausserdem sei Kaufsucht offiziell noch nicht als Erkrankung anerkannt.

Dass es vor allem uns Frauen trifft, wundert mich nicht – man muss sich nur mal umsehen: In den meisten Geschäften erstreckt sich die luftig gestaltete Frauenabteilung über drei Etagen, während Männer ins enge, muffige Untergeschoss verbannt werden. Im TV sucht man selbstverständlich die "Shopping Queen", nicht den King.

"Ich vermute, dass die Zahl angestiegen ist, was auch Studien aus 16 Ländern nahelegen", sagt die Soziologin. In Zeiten von Online-Shops, Influencer-Marketing und permanenter Sales-Beschallung kein Wunder. Dass es bis heute keine einzige Sensibilisierungskampagne zum Thema gibt, erscheint mir nicht nur deshalb mehr als bedenklich.



Ein hoher Preis


Eine aus der Gruppe erzählt, dass sie ihre Einkaufstüten immer im Keller versteckt, bevor sie nach Hause kommt. Dass ihre Hände schwitzen und sie sich nicht mehr konzentrieren kann, wenn sie ein paar Tage nichts kauft. Dass sie ihrem Mann Geld aus dem Portemonnaie klaut, wenn sie ihre Kreditkarte wieder überzogen hat.

In der Gruppe scheinen das einige zu kennen. Ein wesentliches Kriterium der Kaufsucht ist nämlich der nicht mehr kontrollierbare Wunsch, etwas zu konsumieren. Obwohl die Betroffenen wissen, dass die Konsequenzen ihre soziale, körperliche und seelische Gesundheit schädigen, können sie es nicht lassen. Bei Tanja stand regelmässig der Betreibungsbeamte vor der Haustür.

Davon bin ich noch weit entfernt. Zwar herrscht auf meinem Konto am Ende des Monats in der Regel Leere, aber gravierende Probleme hatte ich dadurch noch nie. Und es gibt ganz viele Dinge, die mir viel mehr bedeuten als der Konsum: meine Freunde, meine Beziehung, meine Familie, Sport und Musik.

Dass ich mich so intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt habe, war wichtig und hat bereits reale Konsequenzen: Meinen Kleiderschrank habe ich radikal ausgemistet, die Online-Shops aus der Favoritenleiste meines Browsers gelöscht. Und das fühlt sich besser an als jeder einzelne Moment, in dem ich meine Kreditkarte gezückt habe. (friday)

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