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Expertenrunde spricht jetzt von Corona-"Seuche"

"In ernster Sorge" zeigen sich Gesundheitsexperten bei einer Rede zur Lage des Gesundheitssystems. Sie bezeichnen das Coronavirus nun als "Seuche".

Rene Findenig
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Shopping-Wahnsinn in Wien. Zu diesen Bildern sagen die Experten: "Sie zeigen, dass es Maßnahmen braucht."
Shopping-Wahnsinn in Wien. Zu diesen Bildern sagen die Experten: "Sie zeigen, dass es Maßnahmen braucht."
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Klaus Markstaller, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anaesthesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), Susanne Rabady von der Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich (GÖG) sind in Sorge über die derzeitige Corona-Situation in Österreich. Das taten die Experten bei einer Rede zum Zustand des Gesundheitssystems Österreichs am Samstagnachmittag in Wien kund.

Das Gesundheitssystem, speziell die Intensivmedizin, sei jederzeit zu 85 bis 90 Prozent belegt, unabhängig von der Pandemie, so Markstaller. Wenn man mehr Betten brauche, etwa durch einen Großunfall oder eine Grippe, "dann ist das in diesem Gesundheitssystem perfekt abgedeckt". Zehn Prozent der Bettenkapazitäten könnten ohne Probleme umgeschichtet werden, aber: "In einer Situation wie durch die Pandemie waren wir noch nie", so der Mediziner.

"Ohne Schaden" für andere Patienten, aber mit Einschränkungen wie der Verschiebung von Operationen und Untersuchungen, könne man bis zu einem Drittel der Betten umschichten. "Wenn aber mehr als ein Drittel Betten gebraucht werden, dann beginnt etwas, was Triage genannt wird. Eine Auswahl nach Patienten, die nach Einschätzung die besten Genesungsaussichten haben", so der Experte, dem Rest drohe, nicht mehr behandelt werden zu können.

"Wenn das in den nächsten Tagen so zunimmt, dann kommen wir in die Triage"

"Wenn mehr als 50 Prozent nicht mehr zur Verfügung stehen, haben wir eine veritable Gesundheitskrise", so Markstaller. Aktuell habe man bereits einen Bereich von 25 Prozent erreicht, in dem man Einschränkungen vornehmen müsse. "Wenn das in den nächsten Tagen so zunimmt, dann kommen wir in die Triage", so der Experte. Die wirkliche Limitation sei dabei das Fachpersonal: "Das ist wie ein Flugzeugflug, da würde auch niemand fliegen, wenn es heißt, da wurde jemand schnell angelernt, der fliegt nun das Flugzeug. Genauso wie Piloten kann man nicht Intensivmediziner schnell ausbilden, man kann nur ärztliches und Pflege-Personal zu einem gewissen Grad unter Aufsicht dazunehmen."

Daher sei es der "wirklich ernste Appell" der Mediziner: "Egal welche Maßnahmen verordnet werden, leben Sie diese bitte." Meinungen, wie Grippevergleiche oder Verhamlosungen, seien nicht die Wahrheit. "Wir müssen das Gesundheitssystem schützen", so Markstaller, das gelinge nur durch Reduzierung der Sozialkontakte und Einhaltung der Hygienemaßnahmen. "Und dann hoffen wir auf eine baldige medizinische Lösung".

"Es ist soweit, es ist wie es ist. Es gibt nichts mehr zu deuten und nichts mehr zu beschönigen, die Seuche ist unter uns", machte es Medizinerin Rabady klar. Für viele sei die Krankheit nicht bedrohlich, aber der Prozentsatz jener, für die sie es sei, sei an die Grenze gestoßen und die Kapazität des Gesundheitssystems erreicht. Man sei zwar gut vorbereitet, aber man sei an Grenzen gelangt, das Gesundheitssystem sei voll ausgelastet: "Diese Zahlen sind auf Dauer nicht zu schaffen, irgendwann reißt das Gummibandel".

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    "Die Pandemie wird vorübergehen. Wie und wann sie vorübergeht, daran hat jeder Einzelne von uns einen großen Anteil"

    Rabadys Sorge: Viele Menschen hätten zwar Symptome, sie würden sie aber zuhause auskurieren wollen. Hauptsymptome seien aber Schwäche, Kopfschmerzen und Gliederschmerzen sowie Halskratzen, nicht Husten und Fieber. Und das müsse getestet werden. Die Verschlechterung komme zwischen dem fünften und zehnten Tag und man müsse wissen, wen man potentiell angesteckt haben könne: "In so eine Situation darf man niemanden bringen".

    Zweite Sorge sei, dass Menschen aus anderen Gründen nicht oder zu spät zum Arzt gehen würden: "Bitte melden Sie sich beim Hausarzt per Telefon, nicht erst wenn die Situation an der Kante ist." Man wolle nicht, dass Personen wegen der "explodierenden Grundkrankheit" eine Akutbehandlung brauchen. Die gute Botschaft: "Die Pandemie wird vorübergehen. Wie und wann sie vorübergeht, daran hat jeder Einzelne von uns einen großen Anteil." Der Tipp der Medizinerin: "Bitte atmen Sie nichts ein, was ein anderer ausgeatmet hat und achten Sie darauf, dass niemand einatmet, was Sie ausatmen."

    Der Experte Ostermann versuchte, die Dramatik der Situation anhand von Daten und Zahlen aufzuzeigen. Im Mai oder Juni hatte man ein moderates Fallaufkommen mit 37 Neuerkrankungen pro Tag, so Ostermann. Im Juli und August sei es zu einem leichten Anstieg von 100 bis hin zu 200 Neuerkrankungen gekommen, dann bis Anfang Oktober wurden Niveausprünge auf 600 und 700, dann über 1.000 Fälle festgestellt worden. Bis dahin habe es aber immer einen leichten Rückgang durch die getroffenen Maßnahmen gegeben.

    "Es zeigt leider auch, dass es Maßnahmen braucht"

    In der zweiten Oktoberhälfte habe sich das Bild allerdings verändert "mit einer ganz hohen Dynamik in der Entwicklung, nicht nur in Österreich". Am 29. Oktober hätten die Experten sich mit Kanzler Sebastian Kurz und den Ministern an die Öffentlichkeit gewandt, mit einer Prognose für Intensivstationen und Normalstationen. Der Warntag sei nun mit 550 Intensivpatienten und 3.355 Fällen auf der Normalstationen eingetreten, "und er gibt Anlass zur Sorge".

    Die neuen "Lockdown light"-Maßnahmen hätten wieder Erleichterung bringen sollen, davor gab es pro Woche rund 4.500 Neuinfektionen, die Woche im Lockdown dann 6.400 Neuinfektionen und in der aktuellen Woche bisher rund 8.000 Neuerkrankungen pro Tag. Alleine aufgrund der diese Woche beobachteten Neuinfektionen und wenn sich die Auslastung der Spitäler nicht ändere, dann steige die Zahl der Intensivpatienten auf 700 und auf Normalstationen auf 4.000.

    "Es müssen die Neuinfektionen rückläufig werden, um dies zu entlasten", so Ostermann. In allen Bundesländern sei die Warnstufe sehr hoch und einige würden bereits auf ihr Reservepotential zugreifen. "Schlecht" gehe es den Experten deshalb, wenn sie Bilder sehen würden, wie Samstag die Geschäfte in Wien gestürmt wurden: "Es zeigt leider auch, dass es Maßnahmen braucht", so Rabady.