Ukraine

Expertin rechnet mit NATO-Lüge um die Ukraine ab

Die Ukraine und die NATO – ein jahrelanges Tauziehen, dessen Ende komplett offen ist. Ob es überhaupt noch eine Chance gibt, analysiert eine Expertin.

Historikerin und Buchautorin Mary Elise Sarotte am späten Freitagabend in der ORF-"ZIB2".
Historikerin und Buchautorin Mary Elise Sarotte am späten Freitagabend in der ORF-"ZIB2".
Screenshot ORF

Es war ein Mitauslöser für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – oder zumindest zog es der russische Machthaber Wladimir Putin als Begründung heran. Russland hatte im Vorfeld seiner Invasion an die NATO den Anspruch gestellt, dass die Ukraine zu Russland gehöre und er eine schriftliche Garantie wolle, dass die NATO keine weiteren Staaten aus dem Osten aufnehme. Für Putin war die Lage brisant, denn kurz vor dem Einmarschbefehl des Kremls befürwortete eine knappe Mehrheit der Ukrainer eine NATO-Mitgliedschaft. Seit 2014 kämpfte die Ukraine im Osten des Landes gegen prorussische Rebellen, die von Russland unterstützt wurden und sich vom Rest des Landes in "Volksrepubliken" abgespalten hatten.

Ukraine wartet seit 15 Jahren auf NATO-Beitritt

Russland befürchtete, dass die Ukraine bei engerer Anbindung an die Nato gestärkt gegen die prorussischen Separatisten in der Ukraine vorgehen könnte. "Als Russland 2014 in die Ukraine einmarschierte, war die ukrainische Armee noch ein Schatten ihrer selbst", sagt Benno Zogg, Forscher am Center for Security Studies der ETH Zürich. Das Ziel von Russland sei es kaum gewesen, neue ukrainische Gebiete zu erobern, sondern die Ukraine wieder enger an sich zu binden. "Mit dem Interesse an der NATO befindet sich die Ukraine nach Ansicht Russlands auf einem Irrweg", so der Experte damals. Das russische Außenministerium forderte zudem auch mehrmals den Abzug von Nato-Truppen aus Rumänien und Bulgarien.

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    Am Donnerstag stattet NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg der Ukraine einen für die Öffentlichkeit unerwarteten Besuch ab.
    Am Donnerstag stattet NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg der Ukraine einen für die Öffentlichkeit unerwarteten Besuch ab.
    REUTERS

    Mittlerweile wartet die Ukraine nun bereits seit rund 15 Jahren auf einen damals zugesagten NATO-Beitritt. Nach langem Hin und Her haben sich die Nato-Staaten Mitte Juli 2023 darauf geeinigt, dass die Ukraine definitiv in das Verteidigungsbündnis aufgenommen werden soll – "wenn die Verbündeten sich einig und bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind". Konkrete Details stehen seitdem noch immer aus. Wie realistisch ein NATO-Beitritt für die Ukraine überhaupt noch ist, schätzte die Historikerin und Buchautorin Mary Elise Sarotte von der Johns Hopkins School in Washington am späten Freitagabend in der ORF-"ZIB2" bei Moderatorin Margit Laufer ein. 

    "Putins Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, stieg ständig"

    "Nichts rechtfertigt das, was Putin jetzt in der Ukraine macht", schickte die Expertin vorneweg – sie habe "Hochachtung für den Mut der Ukrainer". Im Tauziehen um die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine räumte Sarotte dann mit einer Lüge Putins auf. Die NATO dürfe sich erweitern, Russland habe den entsprechenden Vertrag selbst unterschrieben, ratifiziert und Geld dafür kassiert – auch wenn er jetzt anderes behaupte.

    Der Kreml habe "die Geschichte immer neu schreiben wollen", mit Russland als Sieger, so Sarotte. Und Putins "Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, stieg ständig", man hätte früher "Stopp" sagen müssen. Am Ende des Kalten Krieges wäre der Zeitpunkt gewesen, Beziehungen zu den Staaten Osteuropas, zur Ukraine und zu Moskau zu knüpfen, so Sarotte. Es hätte dem Westen gelingen können, bessere Beziehungen auf Dauer zu etablieren. 

    "Die Ukraine muss in die NATO, aber erst, wenn sie wieder feste Grenzen hat"

    Es habe einen riesigen Streit beim NATO-Gipfel im Jahr 2008 gegeben, ob die Ukraine der NATO beitreten könne. Und dann sei eine Kompromisslösung, die "die schlechteste aller Lösungen" herausgekommen, eine Zusage ohne Datum und ohne festen Plan, so Sarotte. Das habe Putin "in Rage versetzt", "das hätte der Westen nicht machen sollen", so die Historikerin. Jetzt, in Kriegszeiten, sei es notwendig, der Ukraine zu helfen, "militärisch verteidigbare Grenzen zu erreichen".

    Sollte man das schaffen, solle die Ukraine so schnell wie möglich in die NATO, dann könne man eine Verteidigungslinie mit NATO-Hilfe zu Moskau ziehen, so Sarotte. "Ein gravierender Fehler" seitens des Westens sei es außerdem gewesen, im Jahr 2014 bei der russischen Einnahme der Krim nicht schärfer reagiert zu haben, etwa damals schon russische Energiequellen zu umgehen. Aktuell kämen Sicherheitszusagen an die Ukraine zu kurz, so Sarotte abschließend, die Ukraine müsse "in die NATO", aber erst, wenn sie wieder "feste Grenzen" habe.