"Da sagte der Lehrer zu uns: 'Ihr Saujuden'"

Heute Redaktion
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Mit seiner jüdischen Familie flüchtete Kurt Rosenkranz vor den Nazis von Wien nach Riga. Dort verhaftete man sie, deportierte sie in Arbeitslager nach Novosibirsk und Kasachstan. Rosenkranz und seine Familie überleben. Ein Gespräch mit Maria Jelenko-Benedikt

Ein Lausbub ist er immer noch - trotz seiner 91 Jahre, die man ihm nicht ansieht, funkelt es in den Augen von Kurt Rosenkranz, wenn er über seine Kindheit in der Brigittenau erzählt. Vom Fußball auf der Straße, von Wasserbomben auf den Herrn Direktor. Von den Mädchen, in die er verliebt war, und seinen guten Schulnoten.Doch dann kam der 13. März 1938, Österreichs Anschluss an Nazi-Deutschland. Für Rosenkranz das Ende einer unbeschwerten Kindheit: "Meine Mutter weinte, wir waren ja ein religiöses Haus. Ich fragte sie, warum weinst du, aber sie hat mir nicht geantwortet."

"Ihr Saujuden. Nehmt eure Sachen und ab in die Eselsbänke"

Der nächste Schultag war die Hölle: "Unser Klassenvorstand kam herein mit einer Hakenkreuz-Binde und den Worten 'Heil Hitler'. Sein erster Satz: 'Ihr Saujuden. Nehmt eure Sachen und marsch in die Eselsbänke'". Zwischen Juden und Nichtjuden musste eine Bankreihe frei gemacht werden. "Wir waren vom ersten Moment an Aussätzige." Nach kürzester Zeit waren sämtliche jüdische Schüler aus den Klassen entfernt. Und schon bald darauf wurden die Grenzen dicht gemacht. "Die Fabrik meines Vaters in der Kleeblattgasse wurde komplett devastiert. Er hatte fortan fürchterliche Angst, verhaftet zu werden, hat das Haus nicht mehr verlassen. Und schon bald danach gab es kein einziges jüdisches Geschäft mehr in Wien" , erzählt Rosenkranz.

Per Schiff flüchtete die Familie nach Riga

Die Familie entschied sich zur Flucht. Bekam einen Tipp, mit Touristenvisum nach Riga auszuwandern. "Riga? Wir haben im Atlas nachgeschaut". Keiner der Freunde oder Verwandten hätten sich verabschiedet - aus Angst, auf die Straße zu gehen.

Über Berlin ging es per Schiff in die lettische Hauptstadt. "In Riga gab es sehr viele Juden, sie wurden sehr nett aufgenommen", erzählt Rosenkranz. Kurz nach dem Hitler-Stalin Pakt boten Russen allen Emigranten an, ihre deutschen Pässe (Österreicher hatten damals deutsche Pässe, Anm.) gegen russische, staatenlose zu tauschen. "Meine Eltern waren klug genug, dies nicht zu tun - und daher lebe ich. Die anderen Juden wurden alle von den Deutschen erschossen."

"Hätten sie Messer gehabt, hätten sie sich gegenseitig erstochen"

Die Familie wurde verhaftet und in ein Arbeitslager in Novosibirsk deportiert. "Sie können sich nicht vorstellen, welche Aggression im Lager unter den Leuten herrschte. Hätten sie Messer gehabt, hätten sie sich gegenseitig erstochen." Nach einem Jahr wurde die Familie ins nächste Lager gebracht – nach Kasachstan, Karaganda. Es gab wenig zu essen im Lager: "Manche Leute haben Brot gegen Tabak getauscht und sind elend zu Grunde gegangen", erinnert sich Rosenkranz.

"Warum hast du mich am Leben gelassen?"

Erst am 31. Dezember 1946, als der Krieg schon längst vorbei war, wurden die Gefangenen befreit. In einer Odyssee ging es zurück in die Heimat. In Wien waren alle Freunde und Bekannte weg. "Meine Eltern wurden immer trauriger. Ich war fast 20 Jahre alt und wusste nicht, was Freiheit ist. Ich war verrückt nach Leben." Sein Vater eröffnete eine kleine Schuhfabrik, Rosenkranz lernte bei ihm. Mit 28 heiratete er, bekam zwei Kinder. "Ich habe Gott immer gefragt: 'Warum hast du mich am Leben gelassen?'". Irgendwann sah Rosenkranz dann den wahren Sinn: "Du musst den Anderen sagen, wer wir Juden sind. Weil: Man kennt uns nicht. Und was man nicht kennt, das lehnt man ab. Im schlimmsten Fall bringt man es um. So sind sechs Millionen Juden ermordet worden. Warum? Ihr einziger 'Makel' war, dass sie Juden waren."

1989 gründete Rosenkranz in Wien ein weltweit einzigartiges Bildungsinstitut für erwachsene Nichtjuden, um Vorurteile gegenüber Juden abzubauen. Das Institut am Wiener Praterstern gibt es heute noch. Rosenkranz? Credo: Glaube, Familie, Gesundheit, Humor, und vor allem die Kommunikation niemals vernachlässigen.

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