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"Migranten sind die Verlierer unseres Bildungssystems"

Im Buch "Generation Haram" erklärt Autorin und Lehrerin Melisa Erkurt, warum Migranten in der Schule fast keine Chance haben. "Heute" hat es gelesen.

Amra Duric
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Autorin und Lehrerin Melisa Erkurt kritisiert in ihrem Buch "Generation Haram" das heimische Bildungssystem.
Autorin und Lehrerin Melisa Erkurt kritisiert in ihrem Buch "Generation Haram" das heimische Bildungssystem.
www.corn.at/Zsolnay

Hülya hatte wieder ein "Nicht genügend" in Deutsch bekommen und fragt sich, wie sie die schlechte Note ihren Eltern erklären soll. Eltern, die kein Geld für Nachhilfe haben, selbst nicht helfen können und glauben, dass ihr Kind nicht gut genug für die Schule ist. "Auch Hülya glaubt längst, dass sie nicht gut genug für das Gymnasium ist. Politik und Gesellschaft glauben es auch. Denn Kinder mit Hülyas Background schaffen selten einen Bildungsaufstieg. Wie könnte Hülya also selbst daran glauben?", fragt Melisa Erkurt in ihrem neuen Buch "Generation Haram". 

Ein Jahr lang hat Erkurt an einem Wiener Gymnasium Deutsch unterrichtet. "Hülyas" und "Alis" waren ihr Alltag. Was die Autorin in dieser Zeit erlebt, macht sie fassungslos. Wenn es um Migrantenkinder geht, versagt das heimische Bildungssystem. "Nicht genügend", setzen. In ihrem Buch gibt Erkurt nun den "Verlierern dieses Bildungssystems" eine Stimme. Weghören geht nicht mehr.

Muhammed ist kein Name, Muhammed ist ein Urteil

Auf 190 sehr persönlichen Seiten prangert Erkurt an, woran es in heimischen Schulen fehlt. Die Autorin schreibt über ihre Flucht aus Bosnien, ihren eigenen Bildungsweg, die Probleme daheim. Trotz allem hat sie es in Österreich "geschafft". Matura, Studium, Job. Doch: "Auch die bestausgebildeten Migrantinnen und Migranten stoßen in Österreich noch immer an eine gläserne Decke. Es ist ein Märchen, ihnen zu erzählen, dass sie mit Bildung in Österreich alles erreichen können", schreibt Erkurt. Besonders männliche Migranten tun sich laut der Autorin schwer. "Die Muhammeds dieses Landes, sie sind die herrischen Brüder, die Kleinkriminellen, bestenfalls in Jobs, die körperliche Anstrengung, keine kognitive erfodern. Muhammed ist kein Name, Muhammed ist ein Urteil."

"Kinder lernen schon in jungen Jahren, dass ihre Andersartigkeit schlecht ist, und niemand thematisiert das mit ihnen, wir nehmen hin, dass über Rassismus in der Schule höhstens im Geschichtsunterricht gesprochen wird."

Wenn die eigene Herkunft zur Scham wird

Erkurts Buch ist wie ein Schlag in die Magengrube, besonders für Menschen mit Migrationshintergrund. Ich selbst bin mit meiner Mutter aus Bosnien geflüchtet. Doch das Trauma endet nicht in Österreich. Das kleine Mädchen, das wie ein Wasserfall redete, verstummte im Kindergarten. Jedes Mal wenn ich ein Flugzeug hörte, machte ich mir aus Angst in die Hose. Es dauerte lange bis ich begriff, dass ich auf dem Weg in den Kindergarten nicht von einer Bombe getroffen werden konnte.

Auch ich wusste, dass bei den Problemen, die wir zu Hause hatten, Schule keines sein durfte. Versagen war keine Option, wenn ich es besser haben wollte als meine alleinerziehende Mutter, die neben ihrem Pflegeberuf noch etliche Putzjobs hatte, um uns Kindern eine bessere Bildung zu ermöglichen. Ich war die erste in meiner Familie, die eine Universität von innen gesehen und ein Studium abgeschlossen hatte. Wie Erkurt aber richtig klarstellt, gehen Migranten nicht automatisch davon aus, dass alle Menschen ohne Migrationshintergrund ein großartiges Leben führen. "Der Unterschied ist nur, dass diese Menschen nie wegen ihrer Herkunft benachteiligt werden", so die Autorin.

Melisa Erkurt, geboren 1991 in Sarajevo, war Redakteurin beim Magazin biber und zwei Jahre mit dem biber Schulprojekt "Newcomer" an Wiener Brennpunktschulen unterwegs. Erkurt unterrichtete an einer Wiener AHS und ist seit September 2019 Redakteurin beim Report (Innenpolitik) im ORF. Sie schreibt eine wöchentliche Kolumne im Falter und ihre Kolumne in der taz heißt "Nachsitzen". Ihr erstes Buch "Generation Haram" erscheint am 17. August 2020.

Österreich – ein Kredit auf Lebenszeit

Meine Herkunft war für mich lange Zeit etwas, für das ich mich schämte. In der Volksschule wollte ich meinen Namen auf Anna ändern lassen. Eine Anna wäre nicht jeden Tag gehänselt worden, einer Anna hätte man nicht gesagt: "Du gehörst hier nicht her." Dass ich aus einer muslimischen Familie bin, habe ich in der Schule verschwiegen. Wenn mich jemand gefragt hat, woher ich komme, antwortete ich Kroatien statt Bosnien. Selbst in meiner Studienzeit noch. Kroatien verbinden Österreicher mit Urlaub und Meer. Dort fährt man gerne hin.

"Marginalisierte schweigen über Jahrzehnte, was sie an Diskrimierung erleben. In den letzten Jahren trauen sich einzelne erklären, was sie nicht okay finden. Mehrheitsgesellschaft debattiert so lange darüber, wieso sie es trotzdem sagen werden, bis die Marginalisierten wieder stumm sind", so Erkurt. Denn als Migrant soll man dankbar sein, dass man in einem Land wie Österreich leben darf. Ich persönlich bin es auch, doch es ist kein Geschenk. Österreich ist ein Kredit, den man als Migrant sein Leben lang abbezahlen muss.

"Die Ganztagsschule muss so konzipiert sein, dass auch Bobo-Eltern ihre Kinder unbedingt dorthin schicken wollen." - Melisa Erkurt

Nicht Kinder, sondern das System muss sich ändern

Familie und soziales Umfeld sind laut Erkurt nach wie vor bestimmend für die Zukunft der Kinder. In den Schulen werde nicht genug dafür getan, dass alle die gleichen Chancen bekommen. Die Lehrerin fordert deshalb, gezielt Migranten für den Lehrerjob anzuwerben, Pädagogen auf Diskriminierung zu sensibilisieren und Sozialarbeiter ganztägig zur Verfügung zu stellen, um Lehrkräfte und Kindergartenpersonal zu entlasten.

Weiters braucht es laut der Autorin eine verpflichtende kostenlose Ganztagsschule für alle, damit Kinder, die keine bildungsaffinen Eltern haben, Chancengerechtigkeit erfahren. "Sie muss aber so konzipiert sein, dass auch Bobo-Eltern ihre Kinder unbedingt dorthin schicken wollen." 

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