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Schweden: Höchste Todesrate seit Jahrzehnten 

Der schwedische Sonderweg, der auf die Immunität möglichst großer Teile der Bevölkerung setzt, ist umstritten. Jetzt gibt die hohe Todesrate vom April Kritikern der Strategie Auftrieb. Derweil erklärt Staats-Epidemiologe Tegnell, was er am meisten bereut.

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Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell gibt Fehler in seinem Corona-Krisenmanagement zu
Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell gibt Fehler in seinem Corona-Krisenmanagement zu
picturedesk.com/AFP/Jonathan Nackstrand

In der Corona-Krise hat sich Schweden früh für einen Sonderweg entschieden. Anders als der Rest Europas blieben weite Teile des öffentlichen Lebens unangetastet und Schulen für Kinder unter 16 Jahren, Geschäfte und Restaurants waren durchgehend offen.

Unumstritten war und ist die schwedische Vorgehensweise jedoch nicht. Nun dürften neue Zahlen der schwedischen Statistikbehörden den Kritikern des Sonderwegs Auftrieb geben. Demnach starben allein diesen April 10.458 Menschen in Schweden – mehr als in allen anderen Monaten der vergangenen Jahrzehnte. Oder genauer: so viele wie seit Dezember 1993 nicht mehr.

Im April so viele Tote wie zuletzt im Dezember 1993

Über das ganze Jahr gezählt waren 1993 fast 100.000 Todesfälle verzeichnet worden. Eine so hohe Rate hatte das Land seit 1918 nicht mehr gesehen, als auch in Schweden die Spanische Grippe grassierte. Eine offizielle Erklärung für die hohe Zahl der Todesfälle zu Beginn der 90er gibt es nicht. Allerdings sei Schweden in jenem Jahr von einer schweren Grippewelle heimgesucht worden, schreibt die "Welt".

Bis Dienstag verzeichnete Schweden laut der Johns-Hopkins-Universität fast 31.000 Infektionen und 3.743 Corona-Tote. Damit beklagt das Land weit mehr Corona-Tote als andere skandinavische Länder, die strikte Ausgangsbeschränkungen verhängt hatten.

Der Vergleich mit Nachbar Dänemark

Ein Blick auf die Zahlen der letzten Woche macht etwa den Unterschied zwischen Schweden und seinem Nachbar Dänemark deutlich. So hatten die Schweden letzten Donnerstag 69 neue Covid-19-Tote und 673 Neuinfektionen gemeldet, während es bei den Dänen vier weitere Todesfälle und 46 bestätigte neue Fälle waren. Am Vortag, also am Mittwoch, 13. Mai, waren in Schweden gar 147 Tote hinzugekommen, in Dänemark waren es lediglich sechs.

Insgesamt stehen Schwedens Zahlen den 11.117 Infektionen und 551 Toten in Dänemark gegenüber, wo nur etwa halb so viele Menschen wohnen.

Staats-Epidemiologe Tegnell: "Furchtbar traurig"

Auch im Vergleich zum restlichen Skandinavien sticht Schweden mit den höchsten Zahlen heraus. Trotzdem hält das Land von Ministerpräsident Stefan Löfven und Staatsepidemiologe Anders Tegnell an seiner Strategie fest. Die Lage im Land sei stabil, versicherte Tegnell zuletzt.

Der Epidemiologe setzte ganz auf die Immunität. Seiner Ansicht nach ist eine Immunität möglichst großer Teile der Bevölkerung der Schlüssel im Kampf gegen das Virus. Doch nun gab der 64-Jährige im schwedischen Fernsehen zu: "Das Virus ist viel unvorhersehbarer als erwartet." Er bedaure vor allem, den Fokus auf die Altenpflege nicht früher gelegt zu haben. Die Senioren in den Alters- und Pflegeheimen hätten früher geschützt werden müssen. "Es ist furchtbar traurig, dass weiter so viele Menschen in Schweden an dieser Krankheit sterben", sagte er weiter.

Die Lage unter den älteren Schweden stellt tatsächlich ein erhebliches Problem dar: Fast 90 Prozent aller schwedischen Corona-Toten waren über 70 Jahre alt. Dabei hatte die Regierung diese Hauptrisikogruppe eindringlich gebeten, soziale Kontakte zu meiden, auch Besuche in Altersheimen sind seit dem 1. April verboten. Trotzdem sind diese Heime von der Pandemie besonders hart getroffen worden, sei es in der Hauptstadt Stockholm oder in anderen Landesteilen: Etwa jeder zweite bisherige Covid-19-Tote im Land war ein Heimbewohner.

"Strategie baut auf lebensgefährlichem Konzept auf"

Es gehe auch den Schweden darum, die Corona-Ausbreitung abzubremsen, um Todesfälle zu vermeiden und das Gesundheitswesen nicht zu überlasten, versichert die Regierung. "Schweden verfolgt dieselben Ziele wie alle anderen Länder – Leben zu retten und die öffentliche Gesundheit zu schützen", machte Außenministerin Ann Linde auf Twitter klar.

Die ergriffenen Maßnahmen waren in Schweden jedoch deutlich gemäßigter als anderswo: Versammlungen mit mehr als 50 Teilnehmern sind verboten, nur Gymnasien und Unis geschlossen. Die Regierung und die Behörden appellieren ansonsten hauptsächlich an die Vernunft und den gesunden Menschenverstand ihrer Bürger. Sie bitten sie, Abstand zu halten und bei Symptomen zu Hause zu bleiben – besonders Letzteres wird von manchen Wissenschaftlern skeptisch gesehen.

"Die gesamte Strategie der schwedischen Gesundheitsbehörde baut auf einem lebensgefährlichen Konzept auf: Bleib zu Hause, wenn du dich krank fühlst", kritisierte die Stockholmer Virologin Lena Einhorn bereits Mitte April. Wenn man Kranke bitte, zu Hause zu bleiben, dann habe man einen großen Anteil der Infizierten nicht im Blick, was nicht zuletzt für Ältere Lebensgefahr bedeute, erklärte Einhorn.

Forscher gegen "Corona-Patrioten"

Mit ihrer Kritik am Sonderweg steht sie nicht allein da, wie mehrere Meinungsbeiträge schwedischer Wissenschaftler zeigen. 22 Forscher hatten das Vorgehen der Gesundheitsbehörde bereits im April für gescheitert erklärt. Andere glauben dagegen weiter fest an den antiautoritären und freiheitlicheren Ansatz. Das führt so weit, dass manche Schweden T-Shirts mit Tegnell-Porträts tragen oder sich Tattoos mit seinem Konterfei stechen lassen. Sogar von "Corona-Patrioten" und "Gesundheitsnationalismus" ist in den führenden Zeitungen des Landes die Rede.

Positive Entwicklung bei Reproduktionszahl

Es gibt aber auch positive Entwicklungen: Die Reproduktionszahl lag in der zweiten April-Hälfte fast kontinuierlich unter 1,0. Das bedeutet, dass jeder Infizierte im Mittel weniger als eine weitere Person ansteckt. Die Zahl neuer Intensivpatienten geht mehr oder minder regelmäßig zurück. Und in Stockholm diskutiert man zudem über eine möglicherweise nahende Herdenimmunität, die als Konsequenz des Sonderwegs bald in der Stadt eintreten könnte.

Dazu schrieben besagte 22 Forscher letzte Woche jedoch in einem neuen Meinungsbeitrag, es sei "unrealistisch und gefährlich", sich auf diese Strategie zu verlassen. "Anstatt Menschen sterben zu lassen, sollten wir Menschen am Leben erhalten, bis wirksame Behandlungen und Impfstoffe eingesetzt werden können."

Ob die eigenwillige Corona-Strategie der Schweden am Ende aufgeht, lässt sich auch mehrere Monate nach Pandemie-Beginn noch nicht abschätzen. "Wir können keine Schlüsse ziehen, bevor es nicht vorbei ist", sagte auch Epidemiologe Tegnell. Bis dahin, so Tegnell, dürfte wohl noch mindestens ein Jahr vergehen.