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Schweiz sorgt mit Corona-Sonderweg für Kopfschütteln

Anders als die Nachbarländer verhängt die Schweiz keinen zweiten Lockdown. Mit dem Sonderweg gegen das Coronavirus werden kritische Stimmen laut.

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Die Schweiz setzt in der Pandemie auf Eigenverantwortung.
Die Schweiz setzt in der Pandemie auf Eigenverantwortung.
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Die Schweiz geht einen Sonderweg: Während Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich im Kampf gegen das Coronavirus Lockdowns verhängen, setzt der Bund trotz Rekordzahlen weiter auf Eigenverantwortung.

Das löst Kopfschütteln aus. "Verrückt, da denkt man, dass die Schweiz auch zu Europa gehört, aber wenn ich so lese, was die gerade veranstaltet, dann könnte es auch eine Bananenrepublik sein", findet eine Deutsche.

Aber auch innerhalb der Schweiz hagelt es Kritik. Ganz Europa habe realisiert, dass nur mit rigiden Maßnahmen ein unsozialer und ethisch nicht vertretbarer Kollaps des Gesundheitswesens eventuell noch verhindert werden könne, wettert ein Twitter-User. "Ganz Europa? Nein, das kleine Volk der geizigen, aber reichen Helvetier will es besser wissen."

Ein weiterer Twitterer spricht von einem "feigen, unsolidarischen Sonderweg". Dank des Lockdowns würden die Gesundheitssysteme Deutschlands und Österreichs nicht kollabieren. "Davon profitiert auch die Schweiz, die im Notfall, wenn ihre Highrisk-Strategie nicht aufgeht, Patienten verlegen könnte."

"Reputationsschaden ohne Lockdown"

Auch Gesundheitsexperten sind skeptisch. Der Sonderweg der Schweiz sei kritisch, sagt Gesundheitsökonom Willy Oggier. "Ich hoffe, dass die Schweiz trotz der noch bestehenden Erhöhungsmöglichkeiten im Ausland nicht um Intensivbetten betteln muss, weil sie sich vor wirksameren Maßnahmen gescheut hat." Sicher sei, dass die Bettenbelegung mit Covid-Patienten in einigen Regionen heute schon deutlich höher sei als in der ersten Welle.

Oggier rechnet mit einem Imageschaden für die Schweiz. "Die Marke Schweiz galt bis anhin als sehr stabil und sicher. Käme raus, dass sie in der Pandemie zu lasch reagierte, könnte dies einen Reputationsschaden zur Folge haben." Auch kompliziertere Einreiseverfahren für Schweizer bei der Einreise ins Ausland seien dann zu erwarten.

"Angst vor politischer Überreaktion"

Oggier plädiert für eine Schließung der Gastronomie und der Fitnesszentren nach österreichischem Vorbild. "Ansonsten ist das Weihnachtsgeschäft, vor allem der Tourismus, in der Schweiz enorm gefährdet." Auch müssten Ordnungsbußen ausgesprochen werden, wenn Menschen die aktuellen Maßnahmen nicht einhalten. "Je weicher die Maßnahmen sind, desto härter muss durchgegriffen werden."

Auch Wirtschaftsvertreter sind besorgt. "Die Wirtschaft hat Angst, dass es zu einer politischen Überreaktion kommen könnte, wenn die Überlastung der Spitalbetten droht", sagt Rudolf Minsch, Chefökonom des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. Die Bevölkerung müsse sich deshalb dringend an die Maßnahmen halten. "Jetzt ist nicht die Zeit für Partys – auch nicht für Undergroundpartys."

Bekommt die Schweiz das Virus nicht in den Griff, rechnet Minsch mit dem "Horrorszenario" eines verspäteten Lockdowns. Während andere Länder wieder langsam öffnen würden, steckte die Schweiz mitten im Lockdown. In der Folge wären die Reisetätigkeit und der Handel eingeschränkt. "Die Schweiz käme auf eine schwarze Liste und wäre isoliert."

"Wirtschaftlich verträglichster Weg"

Marcel Tanner, Mitglied der Covid-19-Taskforce des Bundes, verteidigt die Strategie der Schweiz. Er sei zuversichtlich, dass die getroffenen Maßnahmen in zwei Wochen die Fallzahlen reduzierten. "Dafür müssen jetzt alle mitmachen, und Kantone können angepasst an die Lage weiter verschärfen, wie es in Genf geschah."

Im Gegensatz zu den Nachbarländern habe die Schweiz den sozial und wirtschaftlich verträglichsten Weg gewählt, so Tanner. "Geht die Schweiz in einen vollständigen Lockdown ohne weitere Maßnahmen danach, riskiert sie einen Jo-Jo-Effekt." Die Bevölkerung müsse jedoch mit dem Virus leben lernen. "Daher sind milde Maßnahmen, die man über längere Zeit durchhalten muss, am wirkungsvollsten." Das sei am Beispiel von Schweden deutlich geworden.

Auch Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (SP) bezeichnet das Vorgehen der Schweiz in der "NZZ am Sonntag" als richtig. Der Bundesrat habe sich wie im Frühling für einen Mittelweg entschieden. "Er passt zu unserem Land." Wichtiger als extreme Lösungen und große Worte sei, dass die Bevölkerung die Maßnahmen mittrage. "Im Frühling waren wir damit erfolgreich, und jetzt wollen wir so gemeinsam durch die zweite Welle kommen."

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