Ukraine

"Verrostete Waffen" – Russen-Soldat packt über Krieg aus

Mit überraschenden Berichten geht ein russischer Fallschirmjäger an die Öffentlichkeit. Er berichtet von drastischen Missständen in der Kriegsführung.
23.08.2022, 21:05

In mehreren Tagebucheinträgen, die er während des Einsatzes im Ukraine-Krieg verfasst und nun veröffentlicht hat, schildert ein russischer Soldat die Wahrheit über den Kriegsalltag in der Ukraine. Der 34-jährige Fallschirmjägers Pawel Filatjew packt darin komplett aus.

Viele Russen durch eigene Soldaten getötet

Zunächst hatte seine Einheit den Befehl bekommen, auf der Krim eine "Routineübung" abzuhalten. Diese war jedoch ein Gewaltmarsch und eine der ersten Angriffswellen des russischen Angriffskrieges gegenüber dem Nachbarland. In weiterer Folge beschreibt Filatjew die Angriffe auf Cherson und Mykolajiw in der Südukraine.

Die russische Armee sei schlecht ausgerüstet gewesen, die Zustände waren chaotisch und die Waffen teilweise verrostet. Selbst erfahrene Offiziere hätten nicht gewusst, wie man sich im Feld verhält. Zudem habe es mehrere tote russische Soldaten gegeben, die durch "friendly fire" umkamen.

Gegenüber der "Washington Post" gab Filatjew an, dass er noch offiziell Soldat der russischen Armee sei, aber nach wenigen Tagen bereits mithilfe der Menschenrechts-NGO Gulagu.net fliehen konnte. Die US-Zeitung sowie der "Guardian" hatten die Auszüge veröffentlicht. Filatjew war zudem im Interview bei CNN.

Am 15. Februar, neun Tage vor Kriegsbeginn, schreibt der Soldat: "Ich kam auf dem Übungsplatz (in Staryj Krym, Halbinsel Krim, Anm.) an. Unsere gesamte Einheit, etwa 40 Personen, hauste in einem Zelt mit Brettern und einem provisorischen Ofen. Selbst in Tschetschenien, wo wir nur in Zelten oder Lehmhütten untergebracht waren, waren unsere Lebensbedingungen besser organisiert. (…) Für mich und etwa fünf weitere Personen gab es weder einen Schlafsack noch Tarnkleidung, Schutzausrüstung oder Helme. Schließlich erhielt ich mein Gewehr. Es stellte sich heraus, dass es einen gerissenen Gurt hatte, rostig war und ständig klemmte. Also reinigte ich es lange mit Öl und versuchte, es in Ordnung zu bringen."

Im Interview mit CNN hält er fest, dass Russland in der Ukraine "keine Mission" erfülle, wie die Propaganda versucht zu erzählen. Man würde einfach nur tausende Menschenleben auslöschen, ist Filatjew bestürzt im Gespräch mit dem Fernsehsender. Er fühle sich zudem moralisch schuldig, für seine Aktionen in der Ukraine, hätte sich jedoch selbst nicht an Kriegsverbrechen beteiligt.

Am ersten Tag des Krieges hielt er fest: "Gegen vier Uhr morgens öffnete ich neuerlich die Augen und hörte ein Dröhnen, ein Grollen, ein Vibrieren der Erde. (…) Ich stellte fest, dass das Feuer zehn bis 20 Kilometer vor unserem Konvoi ist. (…) Es dämmerte bereits, es war vielleicht sechs Uhr morgens, die Sonne ging auf, und ich sah ein Dutzend Hubschrauber, ein Dutzend Flugzeuge, gepanzerte Angriffsfahrzeuge über das Feld fahren. Dann tauchten Panzer auf, Hunderte von Ausrüstungsgegenständen unter russischen Flaggen. Um 13 Uhr fuhren wir auf ein riesiges Feld, wo unsere Lastwagen im Schlamm stecken blieben. Ich wurde nervös. Eine riesige Kolonne, die eine halbe Stunde lang auf offenem Feld steht, ist ein ideales Ziel. Wenn der Feind uns bemerkt und in der Nähe ist, sind wir erledigt. (…) Der Befehl lautet, nach Cherson zu fahren und die Brücke über den Dnjepr zu erobern. (…) Der Kommandant versuchte, alle aufzumuntern. Wir gehen voran, lassen die festgefahrene Ausrüstung zurück, sagte er, und jeder sollte bereit für den Kampf sein. Er sagte das mit gespieltem Mut, aber in seinen Augen sah ich, dass auch er ausflippte."

"Pure Panik" bei Russen

Am 1. März vermerkt Filatjew Spuren der puren Panik. Seine ganze Einheit sei marschiert, aber bereits sehr müde gewesen. "Wir durchsuchten die Gebäude nach Lebensmitteln, Wasser, Duschen und einem Platz zum Schlafen. (…) Ich fand ein Büro mit einem Fernseher. Mehrere Leute saßen dort und schauten sich die Nachrichten an, sie fanden eine Flasche Champagner im Büro. (…) Der Sender war auf Ukrainisch, ich verstand nicht einmal die Hälfte davon. Alles, was ich verstand, war, dass russische Truppen aus allen Richtungen vorrückten, Odessa, Charkiw, Kiew besetzt waren. Sie begannen, Bilder von zerstörten Gebäuden und verletzten Frauen und Kindern zu zeigen. (…)".

Mitte April konnte der Soldat das Kriegsgebiet endlich verlassen. Nachdem unter Beschuss geriet und fast sein Augenlicht verlor, wurde er evakuiert. Einige Soldaten fügten sich selbst Schusswunden zu, um von der Front abgezogen zu werden. Großmütter, die für die Soldaten kochen sollten, versuchten zudem, das Essen für sie zu vergiften.

Putin hat wenig Rückhalt in der Armee

Nun hält Filatjew fest: "Ich habe überlebt, im Gegensatz zu vielen anderen. Mein Gewissen sagt mir, dass ich versuchen muss, diesen Wahnsinn zu beenden. (...) Wir hatten nicht das moralische Recht, ein anderes Land anzugreifen, vor allem nicht die Menschen, die uns am nächsten stehen. Dies ist eine Armee, die ihre eigenen Soldaten tyrannisiert; diejenigen, die bereits im Krieg waren; diejenigen, die nicht dorthin zurückkehren und für etwas sterben wollen, das sie nicht einmal verstehen."

Laut ihm sei ein Großteil der Armee sehr unzufrieden mit der russischen Führung, speziell mit Wladimir Putin und dem Verteidigungsminister, der selbst nicht in der Armee gedient hat. "Der Hauptfeind aller Russen und Ukrainer ist die Propaganda, die den Hass in den Menschen nur weiter anheizt. Ich kann nicht länger zusehen, wie dies alles passiert und dabei still bleiben", so Filatjew abschließend.

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