Österreich

"Ab 12. März 1938 war es lebensgefährlich"

Diese Nacht wird Robert L. niemals vergessen. Von 11. auf 12. März 1938 beobachtete er von seinem Fenster aus die schrecklichen Ereignisse.

Heute Redaktion
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"Das ging durch Mark und Bein. Grölend sind rund 2.000 Personen, zum Teil mit Fackelzug, in Richtung Karmelitermarkt gezogen", erzählt Robert L.* (*Name der Redaktion bekannt). Lebhaft erinnert sich der 90-Jährige an die Nacht von 11. auf 12. März 1938, als damals Zehnjähriger beobachtete er die Ereignisse von seinem Fenster in der Leopoldstädter Krummbaumgasse aus.

"Bis nach Mitternacht waren die Schreie und die Lieder zu hören. Sie brüllten unaufhörlich 'Ein Volk, ein Reich, ein Führer' und 'Deutschland erwache, Juda verrecke'. SS und SA stürmten jüdische Wohnungen, schleppten Männer zum Karmelitermarkt und prügelten sie spitalsreif."

Bei erniedrigenden, so genannten "Reibpartien", wurden Juden gezwungen, die Pro-Österreich-Slogans für die ursprünglich von Schuschnigg für den 13. März geplante Volksbefragung von den Straßen zu waschen. Erschütternd: Rundherum standen lachende Zuschauer, keiner schritt ein.

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März 1938: "Das hat die Leute vergiftet"

Das Erschreckende: "Das hat die Leute vergiftet, sie wurden aufgehetzt. Ab dem 12. März 1938 war es lebensgefährlich." Ab März 1938 wurde auf Geschäfte geschrieben: "Kauft nicht bei Juden", auf die Parkbänke wurde "Nur für Arier" geschrieben. Wer sich als Jude setzte, "wurde halbtot geschlagen", so L. Und: Juden wurden "einfach herausgeholt, gezwungen, Klos zu putzen", erinnert er sich.

"Auch bisher harmlose Menschen haben sich über Nacht 'umgedreht'"

"Auch bisher harmlose Menschen haben sich über Nacht 'umgedreht'", erzählt der Zeitzeuge. Mit einer Geschichte beschreibt er, wie sich Menschen – von einem Tag auf den anderen – änderten. "Meine Familie hatte ein Geschäft, wir haben zum Beispiel Schulsachen aus Leder und Gürtel verkauft", erinnert sich L. Eine Geschichte kann er nicht vergessen. "Wir hatten ein Kindermädchen aus Zurndorf, sie war Vollwaise, hatte aber in Wien einen Onkel, der als Oberstleutnant in der Roßauer Kaserne gearbeitet hat." 1933 nahm das Kindermädchen den sechsjährigen Robert mit in die Kaserne. "Der Leutnant hat mich auf einen Schemel gestellt, hat mir gezeigt, wie man marschiert." Auch beim nächsten Besuch – "das war 1934, schon nach dem Dollfuß-Mord", – war der Soldat freundlich. Der Bub Robert L. brachte ihm Sockenhalter aus dem Geschäft seiner Eltern –"gegen die Krampfadern, er freute sich sehr", erinnert sich L.

Im April 1938 war alles anders

Im April 1938 war alles anders. "Unser Kindermädchen hat meine Eltern noch gefragt, ob sie etwas dagegen haben, wenn wir den Onkel besuchen. Meine Eltern dachten sogar, es könnte sich positiv auf unsere Situation auswirken." Der Oberstleutnant stand zu dieser Zeit knapp vor der Beförderung zum General. "Seine Frau kam, sagte zu unserem Kindermädchen: 'Ich mach dich darauf aufmerksam, mit dem Judenbuben darfst du nicht mehr zu uns kommen.'" Und: "Wir haben beschlossen, keine jüdischen Kontakte mehr zu haben." Der Oberstleutnant sagte, sie "solle es nicht persönlich nehmen. Ich kann dich mit dem Buben nicht mehr empfangen."

Und: "Im Übrigen sehe ich, dass du noch immer bei Juden beschäftigt bist", bemängelte der Leutnant die Stellung des Kindermädchens. Von einem Tag auf den anderen schlug der Antisemitismus durch.

"Wickerl, Sie auch?"

An eine weitere Begebenheit kann sich L. erinnern: Im Mai 1938 kam eine Angestellte, sagte zu den Eltern: "Ein SA-Mann steht vor der Tür." Erst richtete die Bedienstete aus, die Herrschaften seien unpässlich, woraufhin der SA-Mann sagte: "Sag, der Wickerl steht vor der Tür". Und wirklich: Der Mann in Uniform war ein alter Bekannter. "Er war allerdings im Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps und kein SA-Mann", so L.

Mein Vater sagte: "Wickerl, Sie auch?" Daraufhin erklärte dieser, er werde weiterhin "so sein wie immer. Aber vor meiner Frau müssen Sie sich in Acht nehmen." Diese sei von den Nazis "umgedreht" worden. Die Frau arbeitete zu der Zeit übrigens weiterhin für L.s Familie.

Jahre der Flucht

Im August 1938 wurde die Firma von L.s Eltern arisiert. "Zu Weihnachten 1938 sind wird nach Belgien geflüchtet. Dreimal haben wir versucht, über die Grenze zu kommen. Beim dritten Mal sind wir durchgekommen."

Am 30. 1. hielt Hitler seine Rede, "in der er sagte, bei einem Krieg wird er alle Juden in Europa vernichten", erinnert sich L. Da war die Familie gerade in Antwerpen. "Mein Vater hat zu den Menschen gesagt: 'Fahrt weg'. Aber die Leute sind offenen Auges ins Unglück gerannt." Die Familie versuchte, aus Belgien zu flüchten. "Kein Staat hat uns mehr ein Visum gegeben."

Von Antwerpen floh die Familie nach Ostende, hoffte erst, es nach England zu schaffen. Das klappte nicht. Als sie wieder in Antwerpen waren, wurde letzteres "judenrein" gemacht. "Wir sind nach Brüssel gegangen. Dort sagte uns ein Soldat, den wir von früher kannten: 'Ihr müsst jetzt flüchten, ihr seid in höchster Gefahr.'" Der Soldat hatte mitgehört, wie Eichmann seinem General angekündigt hatte, "Judentransporte in den Osten" zu organisieren. Das sei ein "Führerbefehl."

Drancy war die Endstation vor Auschwitz

Am nächsten Tag flüchtete Familie L. weiter ins unbesetzte Frankreich, nach Lyon. "Von dort aus haben wir dreimal versucht, in die Schweiz zu flüchten - es war vergeblich." Die Familie wurde zur Polizeidirektion geschickt. "Mit Bussen wurden wir zum Stadtrand gebracht. 45 Lastautos mit je 100 Menschen wurden nach Drancy geschickt – es waren 4.500 Menschen." Drancy war die Endstation vor Auschwitz. "Von den 4.500 Menschen haben 16 bis nach dem Krieg überlebt."

Todesmarsch nach Buchenwald

Von September 1942 bis 21. Jänner 1945 war Robert L. im Konzentrationslager Auschwitz. An diesem Tag "wurde Ausschwitz evakuiert", sagt L. Ein Todesmarsch begann. "Wir waren 5.500 Menschen, die 19 Tage lang zu Fuß marschierten - mit einer Dreitages-Ration." Die SS trieb die Menschen an. Mit Holzschuhen und ohne Socken, "nur mit Fußlappen" marschierten sie durch den Schnee - bei Eiseskälte. "Leute, die liegen blieben, wurden erschossen." Von 5.500 Menschen "sind 800 in Buchenwald angekommen", berichtet L. Das war um den 8. Oder 9. Februar 1945. Die Eltern überlebten beide nicht.

"Nach der Befreiung wog ich 29 Kilo"

"Nach der Befreiung durch die Amerikaner am 11. April 1945 wog ich 29 Kilo." Die Hose aus dem KZ hat L. aufbewahrt, legt sie jedes Jahr bei Familienfesten auf den Tisch, um zu erinnern: "Das ist ein lebendiges Zeugnis." Nach dem Krieg kam Robert L. nach Wien zurück. "Ich habe geschaut, ob jemand überlebt hat. Niemand hat überlebt."