Frage von Gerda (29) an Doktor Sex: Zwei Jahre ist es nun her, seit ich kurz vor der Hochzeit eine Affäre mit unserem Trauzeugen – einem sehr guten Freund meines Mannes – hatte. Seither sterbe ich zwar manchmal fast vor Sehnsucht und am liebsten würde ich mich auch wieder mit ihm treffen, aber ich halte strikt Abstand, seit ich verheiratet bin. Ich liebe meinen Mann wirklich sehr. Sexuell hat er mich aber nie wirklich angezogen. Irgendwie sehe ich keinen Sinn mehr in unserer Ehe. Mein Verhalten ist verlogen. Ich habe das Gefühl, meinen Mann deshalb gar nicht zu verdienen. Soll ich ihm alles gestehen oder einfach mit dieser Lüge weiterleben? Ich wäre froh um eine externe Beurteilung der Situation, weil ich sehr verwirrt bin.
Antwort von Doktor Sex
Liebe Gerda
Ja, du hast deinen Mann nicht verdient. Weil man sich die Liebe eines Menschen, seine Zuwendung und auch die Beziehung, die daraus möglicherweise entsteht, nicht verdienen kann. Und: Du lebst nicht mit einer Lüge, sondern mit einem Geheimnis aus der Zeit, bevor du mit deinem Mann verheiratet warst. Oder hat er dich vielleicht danach gefragt, ob du mit seinem Freund eine Affäre hattest und du hast ihm nicht die Wahrheit gesagt?
Geheimnisse zu haben, und damit die Freiheit, zu wählen, wem man was mitteilt, ist nicht nur legitim, sondern geradezu ein Signum dafür, Mensch zu sein und einen freien Willen zu haben. Daran ändert auch die Ehe oder eine andere Beziehungsform nichts. Wer etwas anderes behauptet, leidet an komplett überhöhten Vorstellungen bezüglich dessen, was in einer Beziehung möglich und notwendig ist. Und sehr wahrscheinlich auch an einem beeinträchtigten Selbstwertgefühl.
Anhänger einer radikal moralischen Lebensführung propagieren immer wieder lauthals die "bedingungslose Ehrlichkeit". Sie behaupten, diese sei für eine Beziehung geradezu die Grundvoraussetzung. Sie würde diese überhaupt erst zu einer "echten" Beziehung machen und sei zugleich auch noch Bedingung dafür, dass "echte" Liebe entstehen könne. Ich kann solchen Aussagen nichts abgewinnen. Sie implizieren, dass Menschen und ihre Beziehungen wie Computer nach dem Entweder-oder-Prinzip funktionieren und daher willkürlich gesteuert und verändert werden können.
Das Verhalten von Menschen ist aber genauso wenig voraussagbar, wie es der Verlauf und die Entwicklung einer Beziehung sind. Weil Menschen eben keine seelenlosen Roboter sind, die sich, ihrem Programm ausgeliefert, immer genau gleich verhalten. Menschen machen Fehler. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Menschen können auch verzeihen. Und das, denke ich, hat mehr mit Liebe zu tun als die geradezu stupide Ehrlichkeit um jeden Preis. Vielleicht magst du dich an dieser Möglichkeit orientieren bei der Antwort auf die Frage, ob du ein Geständnis ablegen oder dein Geheimnis für dich behalten sollst.
Ich habe den Eindruck, dass ihr über eure Sexualität und insbesondere den Umstand reden solltet, dass dein Mann sexuell nie wirklich anziehend für dich gewesen ist. Man kann auch eine erfüllende Liebes- und Paarbeziehung leben, ohne miteinander Sex zu haben. Ein solches Beziehungsmodell bedarf aber einer offenen Gesprächskultur und eines entspannten Umgangs mit der Möglichkeit, dass beide Partner allfällige sexuelle Bedürfnisse außerhalb der Beziehung befriedigen.
(wer)