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"Ich war bei den Zeugen Jehovas"

Heute Redaktion
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Micha Barth war bei den Zeugen Jehovas. Im Video berichtet er von körperlicher Züchtigung, Masturbations-Tagebüchern und dem schwierigen Ausstieg aus der Sekte.

Schon seine Großeltern waren Zeugen Jehovas. So wuchs Micha Barth in der Endzeitsekte auf, die davon ausgeht, dass nur seine Anhänger das Harmagedon überleben werden. Fast vierzig Jahre lang nahm er im Königreichsaal an Versammlungen teil und ging von Haus zu Haus, um die gute Botschaft zu überbringen.

Der gebürtige Deutsche, der seit sechs Jahren in der Schweiz lebt, ist vor zwei Jahren ausgetreten. Im Video-Interview mit dem "Heute"-Schwestermedium "20 Minuten" schildert er seine Erfahrungen.

"Nachdem mein Vater schwer verunfallt war, haben die Glaubensführer meine Erziehung übernommen. Schon mit vier Jahren haben sie mich körperlich gezüchtigt. Sie haben mich auf den Boden gedrückt und ihre Oberarme auf meine Oberarme gepresst. Sie haben mir den Hintern versohlt und auf den Kopf geschlagen.

Der Kindesmissbrauch ist kein Einzelfall. Untersuchungen in mehreren Ländern haben gezeigt, dass es bei der Wachtturm-Gesellschaft zu Tausenden Fällen von Kindesmissbrauch gekommen ist", so Barth.

"Wir hatten jeden Freitagabend eine Zusammenkunft, auf die man sich zwei Stunden vorbereiten musste. Am Samstag hatten wir drei Stunden Predigtdienst, wo wir von Haus zu Haus die gute Botschaft bringen mussten. Am Sonntag und am Mittwoch dann wieder Versammlungen. Daneben ging ich zur Schule oder zur Arbeit. Mit 18 hatte ich eine 80-Stunden-Woche."

"Wir gingen von Haus zu Haus und haben jede Klingel gedrückt. Ich habe mich jedes Mal so unwohl gefühlt. Ich hatte Panik davor, einen Freund anzutreffen."

"Bei den Zeugen Jehovas herrscht ein extrem patriarchales System. Frauen sind bei ihnen nur dazu da, die Toiletten im Königreichsaal zu putzen, die Hausarbeit zu erledigen und die sexuellen Bedürfnisse der Männer zu befriedigen."

"Masturbation ist bei den Zeugen Jehovas strikt verboten, weil man laut Bibel seinen Körper züchtigen soll. Tut man es dennoch, muss man es beim Gemeindevorsteher beichten und in einer Liste eintragen, wann man masturbiert hat. Die Masturbationsabstände werden dann kontrolliert."

"Das Rauchen ist total verboten. Ich habe dennoch immer wieder mal eine Zigarre geraucht. Meine Schwägerin hat mich allerdings verpetzt. Da durfte ich ein halbes Jahr keine Gebete mehr machen, Vorlesungen halten oder mich an den Zusammenkünften beteiligen."

"Nichtgläubige gelten als Diener Satans. Mit ihnen sollte man keinen sozialen Umgang führen. Die, die aktiv die Religion verlassen haben, werden als Küchendiener Satans bezeichnet. Sie haben den ewigen Tod jetzt schon verdient. Zu ihnen werden jegliche Kontakte komplett abgebrochen."

"Die Ansage ist klar: "Komm in die Zusammenkünften, geh predigen und spende Geld." Für mich ist die Sekte eine riesige Druckerei mit angehängter Religion, um Mitglieder zu rekrutieren, die spenden."

"Wenn du die Sekte verlässt, verlierst du deine Familie und deine Freunde. Deshalb ist es wichtig, sich schon vor dem Ausstieg ein soziales Netzwerk außerhalb der Sekte aufzubauen. Sonst fällt man in ein tiefes Loch."

"Es geht mir heute viel besser. Aber es ist immer noch ein schwieriger Zustand. Ich habe viele typische Denkmuster und Programme in mir, die schwierig zu überwinden sind. Zum Beispiel gelten Homosexuelle bei den Zeugen Jehovas als entartete Menschen. Ich war selber viele Jahre extrem homophob. Nun lerne ich Homosexuelle kennen und merke, das sind ganz tolle, ganz normale Menschen."