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"Wir haben seit drei Tagen nicht gegessen"

Heute Redaktion
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Angehörige von IS-Kämpfern bringen sich vor dem letzten Schlag gegen die Terrormiliz in Sicherheit. Eine französische IS-Braut erzählt im Interview von ihren Erlebnissen.

Längst hätten Luftschläge diesen Kampf entscheiden können, doch der IS greift in der Kleinstadt Baghus im Euphrattal zu einer altbewährten Methode: Er nimmt Dorfbewohner und die eigenen Familienmitglieder als Schutzschilder.

Während ein Teil der IS-Familien von den Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) abtransportiert und in Lager gebracht wurden – siehe Diashow oben –, versuchen andere, selbstständig zu fliehen.

So wie jene rund 25 Personen, die Redakteurin Ann Guenter des Schweizer Nachrichtenportals "20 Minuten" am Mittwochmorgen um 6 Uhr in die Arme liefen:

"Es gibt beim IS schlicht nichts mehr"

Kleinkinder, vollverschleierte Frauen und sieben Männer erreichen erschöpft und durchfroren – die Temperaturen liegen weit unter dem Gefrierpunkt – den Stützpunkt der SDF, auf dem ich mich befinde. Wir sehen sie von weitem im Licht der aufgehenden Sonne, einige stolpern vor Erschöpfung und weinen, als sie uns erreichen.

Sie erzählen, dass sie das IS-Lager gegen Mitternacht verlassen hatten. Jede Familie zahlte den Wächtern dafür hundert Dollar, wie sie uns berichten.

Es wird Tee gereicht und Brot mit Melasse oder Honig. Die Leute sind ausgehungert, sie stürzen sich darauf. "Wir haben seit drei Tagen nicht gegessen", sagt ein Mann. "Es gibt beim IS schlicht nichts mehr."

Ein älterer Mann kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er leidet an Diabetes, sein rechter Fuß ist graublau verfärbt. Wahrscheinlich muss er amputiert werden. "Ich bin aus Ägypten", sagt er. In seinem Mund faulige Zähne. "Ich bin mit meiner Familie nach Syrien gekommen, weil es in Ägypten keine Arbeit gibt." Er sei Händler und habe Nüsse nach Nordafrika exportieren wollen. "Deswegen gingen wir 2014 nach Manbij. Dort nahm uns der IS gefangen und zwang uns seither mit ihm mitzuziehen."

Seine Erklärung macht stutzig. 2014 war Manbij bereits vom IS erobert worden, weshalb also ging er mit seiner Familie ausgerechnet dort hin? "Wir sind Händler, uns ist egal, wer an der Macht ist, wir wollen Geschäfte machen", sagt seine Frau. Dann schlägt sie den Koran auf. Es hat etwas sehr Demonstratives an sich. Als ob sie zeigen wolle, dass sie vom "wahren Glauben", den sie unter der Herrschaft des IS ausübte, nicht abgefallen ist.

Beweise gibt es nicht. Aber dass der Ägypter aus rein geschäftlichen Gründen mit seiner Familie in den Krieg zog, ist unwahrscheinlich.

Unter all den voll verschleierten Frauen sitzt eine zierliche Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoss. Es stellt sich heraus, dass sie aus Frankreich kommt. Lise Vodour (24) stammt aus Tours und hat sich bereits vor Jahren dem IS angeschlossen. Ein kurzes Gespräch mit ihr macht deutlich: Diese IS-Anhänger flohen nicht aus Baghus, weil sie sich vom IS und seiner Ideologie abwandten. Sie sehen sich vielmehr als Opfer und wähnen sich auf der richtigen Seite. Immerhin: Die junge Französin kritisiert den "Kalifen", IS-Chef Abu Bakr Al Bagdadi. Er habe seine Verantwortung nicht wahrgenommen und sie alle im Stich gelassen.

"Wir haben alles hinter uns gelassen": die französische IS-Angehörige im Interview:

(Video: Ann Guenter, Gilles Brönnimann)

Das Gespräch, das die "20 Minuten"-Redakteurin zusammen mit einem französischen Kollegen führte, in der Abschrift:

War das Leben unter der IS-Herrschaft so, wie Sie es sich vorgestellt haben?

Lise Vodour: Ja, es war so, wie ich es mir vorgestellt habe. Der Krieg erschwerte unser Leben. Wir sind nicht mehr so stark wie vorher, weder militärisch noch finanziell – unter diesen Umständen war es schwierig, das beizubehalten, was wir zuvor im islamischen Staat machen konnten. Vor allem für die Frauen und Kinder war und ist es sehr schwierig.

Wollen sich die Kämpfer des IS ergeben oder weiterkämpfen?

Es gibt dort keine Kämpfe! Die, die dort sind, gehören weder dem Assad-Regime oder den Kurden noch den Christen an. Es gibt Verhandlungen, aber es gibt keine Kämpfe.

Aber die Kämpfe sind doch zu hören!

Ja, es gibt die Luftschläge. Sie haben drei Wagen mit Lebensmitteln bombardiert, die aus dem Irak gekommen sind. Ich habe das gestern mit eigenen Augen gesehen. Überall lagen Konfitüre und Dosen mit Tomatenmark herum. Mit den Bomben will man uns noch weiter schwächen, uns aushungern.

Sind noch viele IS-Anhänger dort?

Ja, es hat viele. Alle, die dort sind, sind Teil des IS. Alle, die jetzt dort sind, sind hierher gekommen, um dem IS zu folgen. Jetzt geht es darum, zu bleiben oder zu gehen – jeder schaut für sich. Wenn Sie also von Zivilisten und Kämpfern sprechen – dort sind alle Zivilisten und alle sind es auch nicht!

Aber es gibt ja Kämpfer dort.

Ja, aber jeder ist ein Kämpfer, ohne es zu sein. Jeder ist ein Zivilist. Ich kann es nicht mehr hören, diese Unterscheidung zwischen Kämpfer und Zivilist. Jeder ist Zivilist oder jeder ist es nicht. Die Schüsse, die man hört, kommen von den Dorfbewohnern, die ihren Boden verteidigen wollen. Sie gehören dem IS nicht an, sie gehören ein bisschen dem Regime oder anderen Gruppen an, sie wissen es wohl selbst nicht so genau. Sie wollen ihren Boden zurückhaben. Von ihnen sind die Schüsse, die man hört.

Wie viele Zivilisten und Kämpfer sind also noch dort?

Das weiß ich nicht.

1.000, 3.000, ...?

Ich weiß es nicht. Die Anzahl lässt sich schlecht einschätzen.

Das Kind unterbricht das Gespräch, es verlangt nach mehr Brot, auf Französisch.

Er spricht Französisch?

Ja. Er spricht Französisch und Arabisch. Er spricht besser Französisch als Arabisch.

Haben Sie dort unten viele Ausländer gesehen?

Ja.

Haben Sie von einem britischen Journalsiten gehört, der dort unten ist? (die Rede ist von John Cantlie)

Ein britischer Journalist?

Ja, er wurde 2012 vom IS gefangen genommen. Ein junger Brite. Es gibt einen Fotografen, einen Kameramann und einen italienischen Priester. Sie sind verschwunden und nach ihnen sucht man.

Ich habe keinen Briten gesehen.

Gibt es dort viele Franzosen?

... außerdem würde es mich wundern, wenn der IS noch Gefangene halten würde. Unsere eigenen, richtigen Gefangenen wurden ja auch durch Luftschläge getötet. Man nahm die Gefängnisse ja ins Visier. Sie sind alle tot (sie lacht ein wenig). Würden die ausländischen Gefangenen wirklich noch leben, hätte man sie ausgetauscht, um eine Lösung zu finden.

Wie heißen Sie?

Ich heiße Lise Vodour.

Wie alt sind Sie?

Ich werde 25.

Ist Abu Bakr al-Bagdadi immer noch ihr Kalif?

Gute Frage. Wir fragen uns auch, wo er ist.

Sind Sie von ihm ...

Lise: ... abgekommen? Ein bisschen, ja.

Wieso?

Weil er seinen Job nicht gemacht hat. Er hat uns in das Kalifat gerufen. Wir haben alles hinter uns gelassen. Wir folgen nur Allah, aber er hatte Verpflichtungen, die er nicht einhielt. Und jetzt, wo ist er? Wenn er jetzt wirklich noch dort unten wäre, hätten wir ihn gesehen. Weil wir sind nicht so viele dort. Wenn er dort wäre, hätten wir ihn gesehen.

Was wird jetzt mit Ihnen passieren?

Ich weiß es nicht.

Wollen Sie nach Frankreich zurück?

Ich würde gerne zurückkehren, aber ... ich weiß nicht, was jetzt passieren wird. Ich habe noch nicht ganz begriffen, dass ich jetzt hier (bei den SDF) bin. Ich werde sehen. Ich weiß es nicht.

Haben Sie Kontakt zu ihrer Familie in Frankreich?

Ja, glücklicherweise hatte ich immer Kontakt zu ihnen.

Sind ihre Eltern auch Muslime?

Nein, ich bin die einzige Muslimin in der Familie. Ich habe eine sehr aufgeschlossene Familie, die mich immer unterstützt hat und mir half. Auch wenn sie es nicht gut hieß, dass ich hierhergekommen bin – sie haben den Kontakt zu mir immer aufrechterhalten. Sie haben immer gesagt, mach, was für dich das Beste ist. Ich war gar nicht überzeugt, als ich nach Syrien ging, ich wusste nicht, was mich dort erwartet.

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