Wien

"Bei Tschetschenen kommen alte Erinnerungen hoch"

Im Zentrum Hemayat werden Kriegsopfer betreut. Seit dem Ukraine-Krieg treffen auch vermehrt Anfragen von Syrern, Afghanen und Tschetschenen ein.

Yvonne Mresch
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Psychologin Nora Ramirez Castillo ist im Zentrum Hemayat für Opfer von Krieg und Folter da. Seit dem Ukraine-Krieg erlebt sie eine Anfrage-Flut.
Psychologin Nora Ramirez Castillo ist im Zentrum Hemayat für Opfer von Krieg und Folter da. Seit dem Ukraine-Krieg erlebt sie eine Anfrage-Flut.
Denise Auer

"Menschen, die den Krieg erlebt haben, finden keinen Schlaf. Sie haben Alpträume, sind schreckhaft, können sich schwer beruhigen", erzählt Nora Ramirez Castillo, Psychologin im Zentrum Hemayat (Alsergrund). Dort werden Menschen betreut, die Kriegs- oder Foltererfahrungen gemacht haben. Bisher kam der Großteil der Klienten aus Afghanistan und Syrien, doch das könnte sich schon bald ändern. "Wir erwarten viele Anfragen von Ukrainern und machen uns bereit", so Ramirez Castillo. Bereits 2015 habe man die Erfahrung gemacht, dass diese zeitverzögert eintreten. "Die Menschen kümmern sich erst um Grundbedürfnisse: Wo bekomme ich Essen, Trinken, eine Unterkunft. Erst nach und nach werden die psychischen Folgen sichtbar." 

"Sie wollen wissen, wie sie ihre Namen ändern können"

Ruhig ist es bei Hemayat aber keineswegs. "Wir kümmern uns aktuell um Helfer, Hilfsorganisationen und Menschen, die psychologische Unterstützung im Umgang mit der Situation brauchen", so die Psychologin. Die Organisation bietet Online-Schulungen für Helfer in den Grenzgebieten, aber auch direkt im Krisengebiet, etwa Odessa, an. Das Bedürfnis nach Unterstützung ist groß. "Die Leute fragen uns, wie sie mit diesen Menschen umgehen sollen. Welche Symptome es bei einem Trauma gibt. Sie wollen nichts falsch machen und müssen gleichzeitig auf sich selbst aufpassen."

Aber nicht nur die Unterstützung der Helfer steht derzeit bei Hemayat im Fokus. "Wir merken im Moment einen Anstieg an Anfragen von Leute, die retraumatisiert sind", berichtet Ramirez Castillo. Der Großteil stamme aus Tschetschenien und war damals nach Österreich geflüchtet. Der Krieg rief bei vielen alte Erinnerungen wieder hervor. "Die Menschen rufen uns an, weil sie Angst haben. Sie fragen uns beispielsweise, wie sie ihren Namen ändern können." Seit dem Ukraine-Krieg haben sich auch die Themen in den Therapiesitzungen geändert. "Das ist für uns eine Chance, noch einmal hinzusehen", so Ramirez Castillo. 29 Neuanmeldungen gab es seitdem, davon sind ein Drittel Wiederaufnahmen aufgrund der Krisensituation und ein Kind aus der Ukraine. Als Reaktion auf die gestiegenen Anfragen richtete die Organisation nun eine eigene Psychotherapiegruppe für Tschetschenen ein.

500 Personen brauchen dringend Therapieplatz

Aber auch bei Syrern und Afghanen kommt es zu Retraumatisierungen. Ein Aspekt, der Ramirez Castillo wichtig ist: "Im Gespräch über die aktuelle Lage dürfen wir unsere anderen Klienten nicht vergessen. Manche sitzen seit einem Jahr auf der Warteliste. Sie dürfen nicht noch länger warten." 

500 Personen hoffen derzeit auf einen Therapieplatz bei Hemayat - 120 von ihnen sind minderjährig. Sie stammen vorrangig aus Afghanistan, Syrien, Irak und Tschetschenien. "Manchmal rufen wir nach einem Jahr an, weil ein Platz freigeworden ist", erzählt Ramirez Castillo. "Dann heißt es zum Beispiel, die Person ist bereits wieder in Kabul. Oder sie hatte einen Suizidversuch hinter sich."

"Erwarten eine ähnliche Situation wie 2015, es darf kein 2-Klassen-System geben"

Neben finanzieller Unterstützung benötigt Hemayat auch Personal und größere Räumlichkeiten, um den Anforderungen gerecht zu werden. "Die Stadt hat uns hier schon Hilfe signalisiert", so Ramirez Castillo. Bisher wurden zwei Ukrainisch-Dolmetscher und zwei Russisch sprechende Therapeuten eingestellt. Es werden nicht die letzten sein, denn: "Wir erwarten eine ähnliche Situation wie 2015. Auch damals sind die Zahlen langsam gestiegen und dann auf einem hohen Niveau geblieben. Es braucht hier längerfristige Hilfe."

Diese längerfristige Hilfe soll allen zugute kommen, betont die Psychologin. "Wir haben derzeit ein 2-Klassen-System bei Geflüchteten. Das, was an Angeboten für Ukrainer geschaffen wird, ist sehr gut. Aber das braucht es auch für Kriegsflüchtlinge aus anderen Staaten." In den Therapiesitzungen spüre Ramirez Castillo den Wunsch nach Gleichstellung stark. "Die Klienten fragen uns oft, warum sie keine ähnlichen Chancen haben. Warum sie teilweise fünf Jahre warten, bis sie arbeiten dürfen. Bis ihr Asylantrag bearbeitet wurde. Diese Menschen brauchen Sicherheit und ihnen muss klar vermittelt werden, was die nächsten Schritte sind."

"Für viele ist die Dramatik in Österreich nicht vorbei"

Auch bei Kindern hat der Krieg in der Ukraine Spuren hinterlassen. Die Auswirkungen sind bei jedem Kind anders, wie die Psychologin erklärt. "Manche haben Konzentrationsschwierigkeiten, sind abwesend, andere ziehen sich zurück und sprechen gar nicht. Wieder andere sind aggressiv, wiederholen Kriegsszenen im Spiel. Die Mütter sind verständlicherweise unter Daueranspannung und nur am Handy, um Informationen über ihre Ehemänner in der Heimat zu bekommen. Denn für diese Menschen ist die Dramatik hier nicht vorbei. Sie sind in Sicherheit, aber ihre Familien nicht. Viele haben Flashbacks, als wären sie wieder im Krieg. Es dauert, bis sie die Realität wahrnehmen."

134 minderjährige Klienten im Vorjahr

Das Zentrum Hemayat wurde 1995 gegründet und versorgt als einzige Spezialeinrichtung für Folter- und Kriegsüberlebende Klienten aus Wien. 2021 erhielten 1.271 Klienten in 15.936 Betreuungsstunden dolmetsch-gestützte psychotherapeutische, psychologische und medizinische Betreuung und Behandlung. Die Klienten, darunter 134 Minderjährige, kamen aus 50 Ländern. Fast die Hälfte waren weiblich.