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Campino war für seine Fans Feuer und Flamme

Heute Redaktion
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Zum Abschluss des dreitägigen Frequency-Festivals in der Nacht auf Sonntag in St. Pölten konnte es mit 99,9-prozentiger Wahrscheinlichkeit keinen stärkeren, spannenderen und intensiveren Kontrapunkt zu den Toten Hosen geben als den zeitgleich auftretenden Nick Cave. Er und seine Bad Seeds schleuderten von der Green Stage ein Dutzend Songs Richtung Publikum. Am zweiten Hauptschauplatz genossen die Toten Hosen mit bengalischen Feuern ein echtes Heimspiel.

Wie ein Schatten schlenderte, tänzelte, sprang und stürzte Cave über die Bühne und schien dabei weder Zeit noch Ort zu kennen. Er schrie "From Her To Eternity" vom bald 30 Jahre alten gleichnamigen Bad-Seeds-Debüt ins Mikrofon und fragte im aktuellen ausufernden "Higgs Boson Blues": "Who cares, who cares what the future brings?" Mehrere Perlen des jüngsten Albums "Push The Sky Away" (Rough Trade) wurden ausgepackt, "Mermaids" wird einem jungen Mann lange in Erinnerung bleiben. Er durfte Cave onstage umarmen und anhimmeln, während dieser beteuerte: "I believe in God, I believe in Mermaids too." Nach diesem Wahnwitz erlangten "Love Letter" und "People Ain't No Good" eine besondere Intimität. Ein zerstörerisches "The Mercy Seat" wurde anschließend ebenso euphorisch aufgenommen wie die bitterbös gesungene Erzählung "Stagger Lee".

Altmeister Nick Cave in Topform

Zum Dank ging Cave auf engsten Raum mit seinen Fans in den ersten Reihen, nahm unzählige Male beschwörend Publikumshände in die eigenen, der gemeinsame Orgasmus dauerte eine kleine Ewigkeit. Die Instrumente der Musiker schrammten währenddessen knapp an der Zerstörung vorbei. Teufelsgeiger Warren Ellis und Tastenmann Conway Savage gebärdeten sich wie hungrige Wölfe, als hätten sie seit Wochen nichts mehr zu spielen gehabt.

Spätestens jetzt dürfte es keinen mehr interessiert haben, dass kurz vor dem Headliner-Auftritt Trip-Hopper Tricky ungefähr die Hälfte seines leider spärlich gesäten Publikums direkt auf die Bühne zu einem Ausnahmekonzert geholt hatte. Lange verdrängt war da auch der Gig des vor drei Jahren extrem gehypten britischen Duos Hurts mit einer eigentümlichen Mischung aus Technoparty und Synthie-Pop. Knapp 75 Minuten Nick Cave machten drei Tage Frequency vorübergehend vergessen. Wiederholung am 24. November im Wiener Gasometer.

Bengalos, Crowdsurfing und Bierdosen bei den Hosen

Großer Andrang herrschte bei den Toten Hosen, die nach einer langen Tournee gut geölt eine echte Festivalshow abzogen. Bereits beim dritten Song "Auswärtsspiel" brannten im Publikum die bengalischen Feuer. Campino selber zündete einen davon mitten in der Menge auf einem Kameraturm. Neues Material ("Ballast der Republik" und "Altes Fieber" etwa zum Start im Doppelpack) und "kampferprobte" Mitgrölklassiker wie "Alles aus Liebe" und "Hier kommt Alex" kamen bestens an.

Zum Überhit "Tage wie diese" ging ein Konfettiregen nieder. Dann holte Frontman Campino, wie immer der perfekte Showman, die befreundeten Billy Talent auf die Bühne, um gemeinsam den Clash-Song "Should I Stay Or Should I Go" zu bringen. Mit "Far Far Away" huldigten die Hosen im Endspurt auch noch Slade, bevor sich Campino zum "Wort Am Sonntag" mit einer Bierdose in der Hand über die Köpfe der Fans zum Mischpult tragen ließ. Die Toten Hosen und das Frequency sind und bleiben eine gute Symbiose.

Lesen Sie auf Seite 2 nach, was am zweiten Festivaltag passiert ist...

Es ist schon eine beachtliche Leistung, nach einem heißen, musikreichen Festivaltag das Publikum kurz vor Mitternacht mit progressiven Tönen noch einmal zu motivieren. System Of A Down, die US-Rockband mit armenischen Wurzeln, ist eben eine Liga für sich, wie sie in der Nacht auf Samstag in St. Pölten bewies. Die Gruppe spielte in guter Form einen Querschnitt ihres Schaffens und füllte das weite Areal vor der Space Stage dicht bis nach hinten. Und dass, obwohl der intellektuelle, komplexe Sound und die dunklen Themen der Lieder grundsätzlich so gar nicht zum Happy-Feeling der Veranstaltung passen.

Fast behäbig legten System Of A Down mit etwas Verspätung los, "Aerials" kam hymnisch, doch schon hier waren die Markenzeichen der Formation klar zu erkennen: verschachtelter Songaufbau, ruhige und flotte Passagen, mehrstimmiger, höchst komplexer Gesang von Serj Tankian und Daron Malakian, eine ebenso einfühlsame wie extrem wuchtig-aggressive Rhythmussektion. Nicht zu vergessen: Malakians Gitarrenspiel - von filigran bis zu Speedmetalriffs - zählt zu den Besten seiner Art im Genre. Es folgten mit "Suite-Pee" und "Prison Song" die ersten Attacken, "I-E-A-I-A-I-O" vermischte armenische Volksmusik mit Heavy Metal, das muss ihnen erst einmal jemand nachmachen.

System Of A Down überzeugte

Erstaunlich welchen Status System Of A Down bei ihren treuen Fans, sonst eher am Nova Rock anzutreffen, genießen, die sogar einen ganzen Tag an Indie-Musik über sich ergehen ließen, um die Band, die seit acht Jahren kein neues Album mehr herausgebraucht hat (2005 dafür mit "Mezmerize" und "Hypnotize" immerhin zwei Platten gleichzeitig).

Wann und ob sich die Musiker zu einer weiteren Zusammenarbeit zusammenraufen blieb auch in Niederösterreich ungeklärt. Jedoch wurde untermauert, dass man Jazz auf Metal prallen und trotzdem die Massen begeistern kann. Was neben dem technischen Können und der eigenwilligen Ausstrahlung der Akteure an großen Songs wie "Chop Suey!" oder "Spiders" liegt.

Ohne Bad Religion, die zuvor ihren zeitlosen Punk vom Stapel ließen, würde es keine System Of A Down geben. Umso verwunderlicher und respektloser, dass zahlreiche System-Fans, die sich einen Platz im Wavebreaker reservieren wollten, beim Auftritt der Punk-Institution aus Los Angeles sich niedersetzen (fehlten nur noch die Badetücher zum Platzhalten...). Der Qualität des Gigs von Bad Religion tat das keinen Abbruch, "Punk Rock Song" oder "I Want To Conquer The World", Hymnen einer Rock-Generation, funktionieren wohl immer - schön, dass nur die Haare der Musiker ergraut sind.