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Verharmlost Sachsen sein rechtes Problem?

Heute Redaktion
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Tausende Rechtsextreme versammeln sich spontan in Chemnitz. Die Szene kommuniziere immer professioneller, so ein Experte. Warum kann die Polizei nicht mithalten?

Innert zwei Tagen ist es in der sächsischen Stadt Chemnitz zu mehreren ausländerfeindlichen Krawallen gekommen. Bei gewalttätigen Protesten bewarfen sich rechte und linke Demonstranten mit Feuerwerkskörpern und Flaschen. Am Montagabend gab es dabei mindestens 20 Verletzte.

Wie viele Rechte und Linke standen sich gegenüber?

An der Demonstration der rechten Bürgerbewegung Pro Chemnitz nahmen etwa 6000 Menschen teil, wie der Mitteldeutsche Rundfunk MDR meldete. Daneben zogen rund 1500 linke Gegendemonstranten durch die Stadt, wie ein AFP-Reporter berichtete. Die Polizei war mit knapp 600 Beamten im Einsatz.

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Wie konnten so schnell so viele Rechte mobilisiert werden?

"Die Szene kommuniziert sehr professionell", sagte Konflikt- und Extremismusforscher Andreas Zick in den "Tagesthemen". Die schnelle Mobilisierung aufseiten rechter Gruppierungen hat für Zick eine neue Qualität erreicht. So sei der Protestmarsch in hoher Geschwindigkeit organisiert worden und viele Gruppen seien extra dafür nach Chemnitz gereist.

Warum ist das in Sachsen möglich?

Für Extremismusforscher Zick ist die Politik der sächsischen Landesregierung Teil des Problems. Diese habe sich dem Problem nicht gestellt, sondern so getan, als sei der Rechtsextremismus vor allem ein Imageschaden. Über Jahre hinweg sei Kontrolle nur suggeriert worden. Auch Rechtsextremismusexperte Hajo Funke kritisiert das "Bagatellisieren" und das "nicht angemessene polizeiliche Handeln".

Quelle: Twitter/Tamedia

Die Polizei wirkte überrumpelt, obwohl die Proteste öffentlich über Social Media organisiert wurden. Wie kann das sein?

Noch am Montagnachmittag hatte Polizeipräsidentin Sonja Penzel versichert, es seien ausreichend Kräfte angefordert worden. Trotzdem eskalierte die Situation. Die Polizei räumte erneut Fehler ein. Es herrsche Personalmangel, beklagte ein Polizeisprecher.

An dieser Entwicklung trage der Staat Mitschuld, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende der Polizei Oliver Malchow gegenüber der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Er verwies auf den jahrelangen Abbau von insgesamt 16'000 Stellen bei der Polizei.

Welche Rolle spielt die AfD bei diesen Protesten?

Die Partei habe in den letzten Tagen ihre Unschuld verloren, sagte Extremismusforscher Hajo Funke im Bayerischen Rundfunk: Es gebe keine Abgrenzung mehr von Demonstranten, die zur Hetzjagd bereit sind. "Man hat als Rechtsextreme mobilisiert. Die Neonazis aus Nachbarländern sind dazugestoßen. Es war eine gemeinsame Mobilisierung von AfD, Pegida, Hooligans und Neonazis vom ‹Dritten Weg›", sagte Funke.

Was haben die Proteste mit Fake News zu tun?

Nach der Gewalttat schaukelte sich die Situation am Sonntag hoch, nicht zuletzt befeuert durch Gerüchte in den sozialen Netzwerken. Dort hieß es etwa, vor dem tödlichen Streit sei eine Frau sexuell belästigt worden. Die Polizei reagierte zwar prompt, twitterte, dafür gebe es keinerlei Anhaltspunkte, trotzdem verbreitete sich die Falschinformation rasant. Erst kürzlich ist eine Studie erschienen, die zeigt, dass die vermehrte Nutzung eines sozialen Netzwerks zu gesteigertem asozialem Verhalten führen kann. Anders gesagt: Mehr Anti-Ausländer-Posts führen zu mehr Gewalt.

Beim Aufmarsch war wiederholt der Hitlergruss zu sehen: Werden die Täter belangt?

Die Polizei hat bislang 43 Strafanzeigen unter anderem wegen Zeigens des Hitlergrusses, Körperverletzung, Landfriedensbruchs und Verstößen gegen das Versammlungsgesetz gestellt. Von mehreren Demonstranten seien die Personalien noch vor Ort festgestellt worden.

Warum macht Ostdeutschland immer wieder Schlagzeilen wegen rechter Gewalt?

Wissenschaftler forschten 2012 zu Rechtsextremismus in Deutschland und kamen zum Schluss: In den ostdeutschen Bundesländern hatte sich die Gruppe mit rechtsextremem Weltbild in sechs Jahren mehr als verdoppelt. Diese Akzeptanz von Rechtsextremismus erklären die Forscher mit Strukturproblemen in Ostdeutschland.

Eine ganze Generation habe das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, wie die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung befand. Die Ausländerfeindlichkeit sei zudem nicht etwa da besonders hoch, wo sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen täglich begegneten, "sondern dort, wo kaum Migranten wohnen". Die Wissenschaftler warnten: "Hier wächst eine Generation heran, die in ihrer rechten Einstellung alle bisherigen Gruppen zu überbieten droht." (red)