Welt

Corona-Krise: Warum Großbritannien abwartet

Heute Redaktion
Teilen
Picture

Während sich viele europäische Länder abschotten und drastische Maßnahmen beschließen, um das Virus einzudämmen, sind diese bisher in Großbritannien ausgeblieben. Ärzte warnen nun: "Hier spielt man mit dem Leben von vielen Menschen."

Europa befindet sich im Ausnahmezustand. Einzelne Länder werden abgeriegelt, Geschäfte, Restaurants und Schulen geschlossen, Grenzen kontrolliert, Veranstaltungen abgesagt. Es gibt kaum noch öffentliches Leben. Nur Großbritannien schwimmt derzeit gegen den Strom.

Immunität durch Infektion

Als einzige westeuropäische Regierung hat London noch keine Zwangsmaßnahmen, wie etwa die Schließung von Schulen eingeleitet. Auch Veranstaltungen fanden bisher ganz normal statt. Lokale und Pubs haben geöffnet. Und das obwohl es auch hier bereits über 1500 Fälle gibt.

Nur wer Husten und Fieber hat, soll sich für sieben Tage isolieren. Boris Johnson forderte zwar dazu auf, Pubs zu meiden und wenn möglich Home Office zu machen, es handle sich jedoch nur um Empfehlungen. Drastische Maßnahmen wurden nicht beschlossen.

Die Logik dahinter: Menschen in Großbritannien sollen sich mit dem Virus anstecken, um eine gewisse "Herdenimmunität" zu erlangen. Junge Menschen sollen sich vermehrt infizieren, die Älteren sollen geschützt werden. Damit soll ein ausreichender Grad an Immunität in der Bevölkerung aufgebaut werden, um die Krankheitswelle wieder zum Abklingen zu bringen.

Die Regierung will in kleinen Schritten verhindern, dass der Ausbruch zu stark unterdrückt wird und im Herbst mit voller Wucht zurückkehrt. Mit dieser Überlegung soll zudem das ohnehin chronisch überforderte nationale Gesundheitssystem (NHS) nicht zusammenbrechen.

Petition für Schulschließungen

Dieser Umstand wird nicht nur von vielen in der Bevölkerung kritisiert, sondern auch von der WHO. Mehr als 634.000 Briten unterschrieben bis Dienstagfrüh eine Petition zur Schließung aller Schulen.

Wissenschafter britischer Universitäten fordern Maßnahmen wie in anderen europäischen Ländern. Dadurch könnten Tausende Leben gerettet werden.

Die britische Zeitung "The Guardian" kritisierte die zögerliche Vorgangsweise der Regierung von Premier Boris Johnson scharf: "Die Unentschlossenheit von Ministern beschwört das Schreckgespenst eines Massensterbens und eines möglichen Chaos in einem unterfinanzierten staatlichen Gesundheitssystem herauf. Dies ist die schlimmste Krise des staatlichen Gesundheitswesens seit einer Generation."

Scharfe Kritik von Ärzten

Bei vielen medizinischen Experten schrillen aufgrund der Pläne von Boris Johnson, die Epidemie weitgehend unkontrolliert ablaufen zu lassen, die Alarmglocken. "Es ist zwingend erforderlich, die epidemische Kurve zu verzögern und abzuflachen, um sicherzustellen, dass unser Gesundheitssystem damit fertig wird", betonte Richard Horton, der Chefredakteur der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet", in der Zeitung "The Times".

Die Epidemiologin Eva Schernhammer von der MedUni Wien erklärte gegenüber dem "Kurier": "Da spielt man mit dem Leben von vielen Menschen. Denn in der Praxis kann man die älteren Menschen nicht so gut abschotten, dass sich nur die Jüngeren infizieren."

Und auch Infektiologe Herwig Kollaritsch verstehe zwar den Grundgedanken, es sei jedoch ethisch nicht vertretbar. "Wenn es gelänge, die Epidemie kontrolliert ablaufen zu lassen, sodass nur Menschen unter 40 Jahren betroffen und Ältere strikt abgeschottet sind, würde die Welle rascher vorbeigehen, die Einschränkungen wären schneller vorbei, und es gäbe wenige schwere Fälle. Aber: Ich würde mich das nicht trauen. Das lässt sich nicht machen, vor allem nicht jetzt in der Anfangsphase.

Aufgrund der großen Kritik, zeichnet sich jedoch auch in der britischen Regierung ein Kurswechsel ab. Am Montag hatte Johnson noch angekündigt, auf Versammlungsverbote oder Schulschließungen wie in anderen Ländern verzichten zu wollen. Viele Arbeitnehmer befinden sich schon im Home Office. Von Reisen wurde abgeraten. Drastische Maßnahmen könnten im Laufe des Tages auch auf der Insel folgen.