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Epidemiologe packt über Impf-Nebenwirkungen aus

Epidemiologe Marcel Tanner über Risiken und Chancen der Covid-Impfung und darüber, warum die Impfung trotz der seltenen Nebenwirkungen Sinn macht.

Epidemiologe Marcel Tanner (70) ist Präsident der Akademien Schweiz und war früher Direktor des schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts. Er sagt: "Es gibt keine Impfung, die absolut nebenwirkungsfrei ist."
Epidemiologe Marcel Tanner (70) ist Präsident der Akademien Schweiz und war früher Direktor des schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts. Er sagt: "Es gibt keine Impfung, die absolut nebenwirkungsfrei ist."
REUTERS

In sehr seltenen Fällen hat die Covid-Impfung zu schweren Nebenwirkungen geführt. Die Kollegen von "20 Minuten" haben mit einer Frau gesprochen, die seit der Impfung nicht mehr arbeiten kann. Und Epidemiologe Marcel Tanner sagt, bei diesem zeitlichen Zusammenhang scheine es plausibel, dass die Impfung die Ursache sei. Solche Fälle gebe es, wenn auch sehr selten. Dies sei der Bevölkerung auch so gesagt worden.

Herr Tanner, eine von "20 Minuten" porträtierte Frau ist seit der Covid-Impfung arbeitsunfähig. Vorher war sie topfit.

Ja, so tragische Fälle gibt es. Auch ich kenne betroffene Personen, unter anderem eine Ärztin in Deutschland. Seit der Impfung ist sie bettlägerig. Solche Fälle sind zum Glück extrem selten. Weniger als ein halbes Promille der geimpften Personen ist von schweren andauernden Nebenwirkungen betroffen.

Darum geht es im Fall Tina E.
Tina E. wurde im Herbst 2021 gegen Covid geimpft – seither kann sie nicht mehr arbeiten.
Vorher hatte sie keine gesundheitlichen Probleme.
Die Ärzte nähmen ihre Leiden nicht ernst und wollten den Zusammenhang mit der Impfung nicht wahrhaben, sagt Tina E.
Nach der ersten Impfung ging es noch am selben Tag los mit den Beschwerden. Fieber, Schmerzen, Übelkeit, ein Ausschlag am ganzen Oberkörper. "Ich war keine Impfgegnerin, aber ich wusste, dass mein Körper auf gewisse Lebensmittel und Medikamente empfindlich reagiert", sagt sie.

Haben Sie damit gerechnet, dass es das geben wird?

Ja, jede Impfung hat ein Risiko von schweren und seltenen Nebenwirkungen. Es gibt keine Impfung, die absolut nebenwirkungsfrei ist. Das gilt auch für Medikamente. Die Nebenwirkungen sprechen nicht gegen eine Impfung, sie sind Teil der Beurteilung, wie die Impfung eingesetzt werden kann. Der Staat macht bei der Impfung eine Risiko-Nutzen-Abwägung auf gesellschaftlicher Ebene. Diese Abwägung fiel bei der Covid-Impfung nach umfangreichen Studien in der Phase 3 eindeutig positiv aus, und das ist auch heute noch so, nach Millionen von verabreichten Covid-Impfungen.

Wurde die Bevölkerung über das Risiko schwerer Nebenwirkungen informiert?

Ja. Bei der Einführung der Impfung wurde das Risikoprofil dargelegt. Diese Informationen waren und sind öffentlich verfügbar und sind auch bei der Zulassung in den Ländern stets beschrieben worden. Die Leute müssten wissen, dass bei jeder Impfung und auch bei jeder Medikation Risiken bestehen. Zudem gab es in allen Impfzentren ein Beratungsangebot, wo Patientinnen und Patienten mit solchen Fragen in geschützten Rahmen einen Arzt oder eine Ärztin konsultieren konnten. Allgemein gilt die Covid-Impfung sogar noch als sicherer als andere Impfungen, die längst in Gebrauch sind.

Tina E. hatte Lebensmittelallergien und war daher verunsichert. Hätte sie sich nicht impfen lassen sollen?

Eine Lebensmittelallergie spricht nicht grundsätzlich gegen die Covid-Impfung. Sie muss aber beachtet werden.

Wenn die Beschwerden wenige Stunden nach der Impfung anfangen, ist klar, dass die Impfung die Ursache ist?

Wenn die Person vorher gesund war und der zeitliche Zusammenhang besteht, dann scheint das plausibel, was aber nicht heißt, dass die Ursache gesichert ist. Ob die Nebenwirkungen direkt mit der Impfung zu tun haben, muss sorgfältig abgeklärt werden. Die Ärztinnen und Ärzte müssen deshalb Impfnebenwirkungen und -komplikationen konsequent prüfen und vor allem melden. Leider sind Meldungen nicht immer vollständig, was umfassende Untersuchungen erschwert.

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    Verstehen Sie den Frust der Betroffenen, die sich auf Empfehlung des Bundes impfen ließen?

    Für die Betroffenen ist das sehr tragisch. Auch deshalb war ich immer gegen einen Impfzwang. Jede Person muss das Recht und die Möglichkeit haben, für sich zu entscheiden und die Risiko-Nutzen-Abwägung auf individueller Ebene zu machen. Ich bin auch dafür, dass der Bund die möglichen Impfschäden umfassend abklärt und die Anträge auf Entschädigung wegen Impfschäden speditiv prüft und beantwortet.