Welt

Es sind so viele Menschen auf der Flucht wie noch nie

Die Zahl der Menschen auf der Flucht steigt weltweit immer weiter – viele von ihnen wollen in Europa unterkommen.

20 Minuten
Teilen
1/6
Gehe zur Galerie
    UNHCR-Chef Filippo Grandi präsentiert den jährlichen Flüchtlingsbericht für 2019 in Genf.
    UNHCR-Chef Filippo Grandi präsentiert den jährlichen Flüchtlingsbericht für 2019 in Genf.
    picturedesk.com/Keystone/Salvatore di Nolfi

    Ende vergangenen Jahres war rund ein Prozent der Weltbevölkerung wegen Kriegen, Gewalt, Konflikten oder Angst vor Verfolgung aus ihrer Heimat vertrieben. Insgesamt waren 79,5 Millionen Menschen – fast so viele wie Deutschland Einwohner hat – auf der Flucht, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in seinem Bericht zum baldigen Weltflüchtlingstag (20. Juni) mitteilte. Die Coronakrise und damit verbundene Armut betroffener Bevölkerungen dürfte die Flucht in Richtung Europa verstärken, sagte UNHCR-Chef Filippo Grandi in Genf.

    Die Zahl war ein neuer Rekord in der fast 70-jährigen Geschichte des UNHCR. Sie hat sich zwischen 2010 mit gut 40 Millionen und 2019 fast verdoppelt. Der neue Anstieg ist mit fast neun Millionen oder gut zwölf Prozent rasant. Das liegt aber auch daran, dass das UNHCR Venezolaner im Ausland erstmals in einer neuen Kategorie zählte.

    "Lähmung der internationalen Gemeinschaft"

    Grandi sieht vor allem die Arbeitsplatzverluste durch die Corona-Krise als Treiber weiterer Flucht und Migration: "Ich habe keinen Zweifel, dass die wachsende Armut und der Mangel an Lösungen sowie die Fortsetzung von Konflikten zu mehr Bevölkerungsbewegungen führen wird, in den Regionen und darüber hinaus, nach Europa etwa."

    Schuld am Mangel von Lösungen seien auch Länder, die eigene Interessen in Konfliktgebieten verfolgten und Konfliktlösungen behinderten. Der Bericht zeigt auf, dass die Chancen von Flüchtlingen auf ein rasches Ende ihrer Notlage zunehmend schwinden. Während in den 1990er Jahren im Durchschnitt jedes Jahr 1,5 Millionen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehrten, waren es in den vergangenen zehn Jahren im Schnitt weniger als 400.000 im Jahr.

    "Das ist ein Anzeichen für die Hartnäckigkeit von Konflikten, für neue Konflikte, und die Lähmung der internationalen Gemeinschaft", sagte Grandi. Dazu zähle der Weltsicherheitsrat, der nicht in der Lage sei, Konflikte zu lösen und Bedingungen zu schaffen, damit Flüchtlinge heimkehren könnten. Das UNHCR könne sich nur um die humanitären Folgen von Konflikten kümmern und bei der Rückkehr von Flüchtlingen helfen, wenn die Bedingungen dafür geschaffen seien.

    Zahl der im eigenen Land Vertriebenen steigt

    Das UNHCR hat erstmals Venezolaner, die vor der Misere im eigenen Land geflohen sind, in einer eigenen Kategorie gezählt. Die 3,6 Millionen Venezolaner, die seit 2015 überwiegend in Nachbarländer flüchteten, haben zwar größtenteils keinen Flüchtlingsstatus beantragt. Sie brauchen aber nach UNHCR-Angaben trotzdem Schutz und dürften zum Beispiel nicht abgeschoben werden.

    Aber auch ohne die Venezolaner waren mehr Menschen auf der Flucht als ein Jahr zuvor. Die Zahl der Flüchtlinge außerhalb des eigenen Landes blieb mit 26 Millionen zwar praktisch konstant. Aber die Zahl der im eigenen Land Vertriebenen stieg von 41,3 Millionen Ende 2018 auf 45,7 Millionen. Auch die Zahl der Asylsuchenden stieg, von 3,5 auf 4,2 Millionen. Weil darunter auch Migranten sind, die letztlich nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, listet das UNHCR sie gesondert auf.

    Deutschland war fünftwichtigstes Aufnahmeland

    Drei Viertel der Flüchtlinge leben Ende 2019 in der Nähe ihrer Heimat. In Europa waren weniger als zehn Prozent derjenigen, die ins Ausland geflohen waren. Mit 1,1 Millionen Flüchtlingen war Deutschland nach der Türkei, Kolumbien, Pakistan und Uganda das fünftwichtigste Aufnahmeland. Hinzu kamen in Deutschland nach der UNHCR-Statistik gut 309.000 Asylsuchende, über deren Status noch nicht entschieden war.

    In Österreich ist in den letzten Jahren die Zahl der Asylanträge deutlich gesunken. Insgesamt stellten 2019 12.886 Menschen einen Asylantrag, das entspricht in etwa der Antragszahl von 2008 (12.841 Asylanträge).

    Die Corona-Krise habe aber auch internationale Solidarität gezeigt, sagte Grandi. Aufnahmeländer hätten Flüchtlinge größtenteils in ihre Gesundheitsversorgung einbezogen. Spendenaufrufe seien erfolgreich gewesen. Das UNHCR habe von Unternehmen und Einzelpersonen in diesem Jahr schon 15 Prozent mehr Geld und Sachspenden erhalten als zum gleichen Zeitpunkt im vergangenen Jahr, sagte Grandi. Die jüngste Spendenkampagne zum muslimischen Fastenmonat Ramadan habe acht Millionen Dollar zusammengebracht, 250 Prozent mehr als 2019.

    Fakten zu Flucht und Vertreibung auf einen Blick:

    • Rund 100 Millionen Menschen mussten in den letzten zehn Jahren fliehen, entweder innerhalb ihres Herkunftslandes oder über Landesgrenzen hinweg.

    • Seit 2010 hat sich die Zahl der Menschen auf der Flucht verdoppelt (41 Millionen im Jahr 2010 versus aktuell 79,5 Millionen).

    • 80 Prozent aller Vertriebenen befinden sich in Regionen oder Ländern, die von akuter Ernährungsunsicherheit und von Unterernährung betroffen sind.

    • Mehr als drei Viertel aller Flüchtlinge (77 Prozent) sind langfristig von Vertreibung betroffen, zum Beispiel aus Afghanistan müssen Menschen seit mittlerweile fünf Jahrzehnten fliehen – und können seit Jahrzehnten nicht heimkehren.

    • Mehr als acht von zehn Flüchtlingen (85 Prozent) befinden sich in Entwicklungsländern, die meisten finden in einem Nachbarland Zuflucht.

    • Zwei Drittel aller Menschen, die aus ihrem Land fliehen müssen, kommen aus nur fünf Ländern: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar.

    • Städte werden vermehrt zum Zufluchtsort: 2019 wurden etwa zwei Drittel der Binnenvertriebenen in Städten und in städtischem Umfeld erfasst.