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Fall Nawalny: So wirkt das nachgewiesene Gift

Die Mediziner der Berliner Charité gehen davon aus, dass Putin-Gegner Alexei Nawalny vergiftet wurde. Die vermutete Substanz ist keine unbekannte.

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Alexei Nawalny wird nun in Berlin behandelt.
Alexei Nawalny wird nun in Berlin behandelt.
picturedesk.com

"Die klinischen Befunde weisen auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin" – mit diesen Worten bestätigte die Berliner Charité, was viele schon befürchtet hatten: Auf den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny wurde ein Giftanschlag verübt.

Zwar sei die konkrete Substanz noch unbekannt, so heißt es in der unter anderem auf Twitter verbreiteten Stellungnahme des Spitals weiter, welches den Putin-Gegner nun versorgt. Aber bereits die Nennung der heimlich verabreichten Wirktstoffgruppe verrät, welche Qualen Nawalnys Körper durchmacht und dass er Glück hat, noch am Leben zu sein.

Einer der giftigsten Kampfstoffe überhaupt

Die Cholinesterase-Hemmer zählen zu den Nervengiften, zu denen zum Beispiel auch Kampfstoffe wie Sarin oder VX gehören. Je nach Variante sowohl in fester, flüssiger als auch pulveriger Form. Sie führen zu Krämpfen unter anderem des Magen-Darm-Traktes und anschliessend zum Tod durch Atemstillstand. Die genaue Wirkungsweise ist jeweils von der eingesetzten Substanz sowie von der Dosis abhängig.

Am Beispiel von Sarin zeigt sich, wie gravierend so eine Attacke ist. Die chemische Substanz zählt zu den giftigsten Kampfstoffen, die jemals hergestellt wurden. Schon ein Milligramm reicht aus, um Menschen zu töten.

Reizüberflutung der Nervenzellen

Das Nervengas, das 1938 während der Forschung an Phosphorverbindungen für den Einsatz als Insektenvernichtungsmittel entwickelt wurde, tötet heimlich: Es ist geruchlos, geschmacklos und unsichtbar. Die Opfer bemerken es nicht, wenn sie ihm ausgesetzt sind.

Aufgenommen wird das hochtoxische Aerosol über die Atemwege, die Haut und die Augen. Im menschlichen Körper angekommen, wirkt es über das zentrale Nervensystem. Dort verhindert es den Abbau des Botenstoffes Acetylcholin an den Rezeptoren der Nervenzellen. Der dadurch entstehende Überschuss führt schließlich zu einer Reizüberflutung der Nervenzellen.

Die Dosis macht das Gift

Klassische Symptome einer Sarin-Vergiftung sind laut Christine Rauber-Lüthy, stellvertretende Direktorin und leitende Ärztin bei Tox Info Suisse, Erbrechen, Diarrhoe, gesteigerter Speichelfluss, eine übermässige Absonderung von Schleim aus den Bronchien (Bronchorrhoe), eine Verengung der Pupillen (Miosis), Stuhl- und Harninkontinenz, ein Herzschlag unter 60 Schlägen pro Minute (Bradykardie) und niedriger Blutdruck (Hypotonie).

In besonders schweren Fällen – so wie beim Luftangriff auf Syrien im Jahr 2017 – kommt es zu Krämpfen, Bewusstlosigkeit, einer verlangsamten Atmung und führt unbehandelt schließlich zum Tod. Wie lange es dauert, bis dieser einsetzt, ist von der Dosis abhängig, erklärte Rauber-Lüthy damals auf Anfrage von 20 Minuten: "Die Symptome manifestieren sich nach wenigen Minuten bis Stunden."

Spätfolgen nicht ausgeschlossen

Wer einen Sarin-Angriff überlebt, bei dem können sich die Schäden im zentralen Nervensystem nach und nach zurückbilden. Sie können allerdings auch irreversibel sein – und die Betroffenen leiden ein Leben lang. Was auf Nawalny zutreffen wird, ist noch ungewiss, teilt die Charité mit: "Der Ausgang der Erkrankung bleibt unsicher, und Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, können zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden."

Nawalny wird derzeit mit dem Gegengift Atropin behandelt. Dieses stammt von der Tollkirsche und stoppt die Reizüberflutung im zentralen Nervensystem. Dabei gilt: Je schneller das Atropin verabreicht wird, desto größer sind die Chancen auf Heilung.

Bislang gibt es keinen Beweis dafür, dass Alexei Nawalny tatsächlich mit Sarin vergiftet wurde, fest steht nur, dass es ein Wirkstoff der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer war.