Gesundheit

"Für junge Gesunde ist Corona ungefährlich"

Feiern bis das Virus kommt? Gesunde unter 45-Jährige in die "Freiheit" entlassen und Risikogruppen konsequent isolieren? Diese Idee haben Experten.

20 Minuten
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Junge sollen wieder Freiheit bekommen, während man Ältere schützt, meinen einige Experten.
Junge sollen wieder Freiheit bekommen, während man Ältere schützt, meinen einige Experten.
picturedesk.com

Pietro Vernazza, Chefarzt am Spital St. Gallen, plädiert für eine Rückkehr zu Normalität. Statt wie mit der aktuellen Strategie des Schweizer Bundesrats, das Coronavirus auszurotten, sagte er der "SonntagsZeitung": "Man könnte die Schutzmaßnahmen in der breiten Bevölkerung reduzieren, damit die junge Bevölkerung nach und nach mit dem Virus in Kontakt kommt. Den älteren Menschen sollte man die Möglichkeit geben, sich besser zu schützen."

Dabei beruft er sich darauf, dass Studien im Tessin, Spanien oder den USA zeigten, dass zehnmal mehr Menschen mit dem Virus angesteckt worden seien, als tatsächlich diagnostiziert wurden. Dies zeigt für Vernazza, dass es sehr schwierig sei, alle Infizierten aufzuspüren und abzuschotten.

"Es zeigt aber auch, dass viel mehr Menschen, als man bis jetzt dachte, mit dem Virus problemlos umgehen können", so Vernazza weiter. "Das Virus ist eben doch in vielen Punkten ähnlich wie eine Grippe." Der Hauptunterschied sei, dass Corona sehr viel ansteckender sei.

"Aktuelle Strategie macht keinen Sinn mehr"

Immunologe Beda Stadler pflichtet Vernazza bei. Die aktuelle Quarantäne-Strategie koste viele Millionen und mache aufgrund der neusten Erkenntnisse zum Virus keinen Sinn mehr, sagt Stadler: "Sehr viele Menschen sind bereits durch eine Infektion mit anderen Corona-Erkältungsviren geschützt." In Kombination mit der Erkenntnis, dass jungen, gesunden Menschen das Virus wenig anhaben könne, müsse nun zur Normalität zurückkehren, statt weiter Panik zu verbreiten. "Es gilt, die Alten und die Risikopersonen mit allen Mitteln zu schützen – und die Gesunden in die Freiheit zu entlassen."

"Es zeigt sich: Für gesunde junge Menschen unter 45 Jahren ist das Coronavirus nicht gefährlich", so Stadler. Er verweist gegenüber "20 Minuten" auf eine Studie in "Science" (hier) sowie auf die Bundesamt-für-Gesundheit-Zahlen: 97 Prozent der Personen, die am Virus gestorben sind, litten an einer oder mehreren Vorerkrankungen; der Altersmedian der Todesfälle liegt bei 84 Jahren. Ganz anders sehe es bei der saisonalen Grippe aus: An ihr sterben auch Kinder, Schwangere, Babys. Eine schwere Grippesaison sorgt in der Schweiz jeweils für bis zu 2500 Tote, in Österreich im Schnitt rund 1.000.

Komme es doch zu einem schwerwiegenden Verlauf mit Corona bei jungen Menschen, seien Risikofaktoren im Spiel. Stadler: "Dass gänzlich gesunde, junge Menschen ursächlich an Corona gestorben sind, sind einfach mal Behauptungen: Ich will die Pathologie-Berichte sehen."

"Das kann im Desaster enden"

Heiner Bucher, Epidemiologe am Universitätsspital Basel, kommt zu einem gänzlich anderen Schluss: "Wir sind bis jetzt dank dem Lockdown und den Hygiene-Massnahmen glimpflich über die Runden gekommen", sagt er zu "20 Minuten". Dieses Fazit treffe übrigens auch auf Westeuropa mit Ausnahme von Großbritannien zu. "Wir hätten sogar wie im Tessin die ganze Schweiz noch schneller runterfahren müssen", sagt Bucher.

Der Vorschlag, die Jungen "spreaden" zu lassen, während man die älteren Personen und die Risikogruppen strikt isoliere, sei gefährlich und nicht umsetzbar. "Auch im Altersheim arbeiten junge Menschen – und diese würden dann unweigerlich das Virus wieder in die Risikogruppen tragen, weil sie infiziert sein können, ohne Symptome zeigen", sagt Bucher. Zudem sei die Idee, eine Herdenimmunität durch "natürliche" Infektionen zu erreichen, eine Illusion: "Gerade Schweden zeigt, dass sie gescheitert ist." So zeigen die dortigen Daten, dass die Herdenimmunität in Schweden ungenügend ist– nötig wären dafür laut Bucher 60 Prozent. Ende Mai lag die Zahl der Personen mit Antikörpern im Blut in Stockholm bei 20 Prozent.

"Wir müssen jetzt noch ein paar Monate die Maßnahmen und Hygieneregeln durchhalten"

Bucher warnt vor einer Verharmlosung des Virus: "Die Verläufe sind viel schwerer als bei der Grippe, das sehe ich bei meiner Arbeit im Spital." Das Beispiel Schweden mit deutlich mehr Toten – Schweden zählte pro Million Einwohner Ende Mai fast doppelt so viele Todesfälle wie die Schweiz – zeige, dass die Durchseuchungsstrategie im Desaster enden könne: "Wir müssen jetzt noch ein paar Monate die Massnahmen und Hygieneregeln durchhalten, bis vielleicht schon im Frühjahr ein Impfstoff da ist", sagt Bucher.

Laut Bucher erfolgt die Nagelprobe nach dem Ende der Sommerferien. "Wenn dann die Zahlen nicht hochschnellen, bin ich vorsichtig optimistisch." Ob sich eine zweite Welle im Herbst und Winter verhindern lasse, bleibe aber weiter ungewiss.