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"Geld knapp" – Vater arbeitet 70 Stunden pro Woche

Trotz Vollzeitbeschäftigung hat ein Familienvater einen zweiten Job angenommen. Laut Experten nehmen Mehrfachbeschäftigungen immer mehr zu.

Ein Familienvater aus dem Kanton Aargau hat seit eineinhalb Jahren eine 70-Stunden-Arbeitswoche.  (Symbolbild)
Ein Familienvater aus dem Kanton Aargau hat seit eineinhalb Jahren eine 70-Stunden-Arbeitswoche. (Symbolbild)
Getty Images

A.* aus dem Kanton Aargau geht es nicht gut. Der 44-jährige Zweifachvater ist ständig müde. Seit eineinhalb Jahren hat er eine Doppelbelastung zu tragen: "Ohne Kaffee und Energydrinks könnte ich nicht mehr funktionieren", sagt er. Der Grund: Trotz einer Vollzeitbeschäftigung hat er einen zweiten Job angenommen und damit eine über 70-Stunden-Arbeitswoche. "Es gibt Tage, da arbeite ich von 23 bis sechs Uhr in einer Fabrik. Dann schlafe ich bis zehn Uhr. Ab elf Uhr liefere ich Essensbestellungen aus. Von 13.30 Uhr bis 17 Uhr habe ich eine Pause und arbeite dann wieder als Kurier, bis die Schicht in der Fabrik beginnt", erzählt A.

"Es ist scheiße"

, sagt der 44-Jährige. "Ich habe aber eine Familie und viele Rechnungen, die ich Ende Monat bezahlen muss. Zudem ist meine Mutter im Kosovo an Krebs erkrankt und ich komme für die Behandlungskosten auf." Das Geld sei sehr knapp, unerwartete Kosten könne er kaum tragen. Weil A. nicht als Working Poor gilt, kann er weder Ergänzungsleistungen noch Sozialhilfe beziehen. Wie lange er diese Belastung aushält, weiß er nicht: "Ich bin körperlich und mental fix und fertig."

Laut Philipp Frei von der Budgetberatung Schweiz gibt es bei Nebenverdiensten, wie beispielsweise Kurierfahrten, eine sehr hohe Nachfrage. Einer der Gründe: "In vielen Tieflohnbranchen werden Löhne gezahlt, die schlicht nicht ausreichen." Zudem seien Haushalte mit tiefen Einkommen derzeit besonders stark von den ansteigenden Konsumentenpreisen betroffen. "Handwerker sind arbeitsbedingt häufig auf ein Auto angewiesen. Da sie generell weniger verdienen, trifft sie der gestiegene Benzinpreis hart und sie leiden unter der Inflation", erklärt Frei. "Zudem wohnen Personen mit tieferem Einkommen häufig in älteren Häusern oder Wohnungen, welche noch nicht so effizient sind und mit Öl heizen, wobei der Ölpreis erneut Probleme bereitet."

Frei befürchtet: "Der Trend zur steigenden Nachfrage nach Nebenverdiensten wird sich mit der aktuellen Inflation noch intensivieren." Er rät Betroffenen, einen Budgetplan zu erstellen und zu schauen, wo sie noch Einsparungen vornehmen können. Sei dies nicht möglich, müsse man sich informieren, ob einem Vergünstigungen zustehen und allenfalls eine Beratung in Anspruch nehmen. "Rund ein Drittel der Leistungen, die Menschen beanspruchen könnten, werden nicht bezogen. Gründe dafür sind, dass sie es nicht wissen, überfordert sind mit der Eingabe des Bezugs oder Scham", so Frei.

Working Poor
Laut dem Bundesamt für Statistik (bfs) galten im Jahr 2020 in der Schweiz etwa 722.000 Menschen offiziell als arm. Rund 4,2 Prozent aller Erwerbstätigen waren von Armut betroffen. Der Schwellenwert für die Armutsbetroffenheit orientiert sich am Existenzminimum der Sozialhilfe laut der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). 2020 betrug die Armutsgrenze durchschnittlich 3963 Franken pro Monat (umgerechnet ebenso viele Euro) für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern. Laut einem kürzlich veröffentlichten Positionspapier von Caritas leben in der Schweiz viele Menschen in Haushalten, deren Einkommen nur knapp über der Armutsgrenze liegt. "Sie gelten nicht als arm, haben aber ebenfalls kaum genug Geld zum Leben. Würde die heute geltende Armutsgrenze um nur gerade 500 Franken pro Monat höher angesetzt, würde sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen auf einen Schlag verdoppeln", heißt es unter anderem im Positionspapier.

"Die Menschen verdienen trotz Vollzeit-Arbeit zu wenig zum Leben"

Bei Travailsuisse, dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, kennt man das Problem. "Die Menschen arbeiten Vollzeit und verdienen trotzdem zu wenig zum Leben", sagt Präsident und Alt-Nationalrat Adrian Wüthrich. Der Anteil der Mehrfachbeschäftigung habe in den letzten Jahren stark zugenommen. "Leider wird das Phänomen mit steigender Teuerung noch akuter. Je höher die Teuerung, desto weniger haben die Leute zum Leben", so Wüthrich.

Wirksam wäre ein gesetzlicher Mindestlohn, der die Existenz sichert. "Dann könnte man auch von mehreren Teilzeitjobs leben ohne längere Wochenarbeitszeit." Weitere Forderungen von Travailsuisse sind bedarfsabhängige Familienzulagen oder Familienergänzungsleistungen sowie tiefere Kosten für die familienergänzende Kinderbetreuung. "Damit könnte die Familienarmut wirksam bekämpft werden", so Wüthrich.

Über 500.000 Menschen von Armut betroffen
Laut Travailsuisse sind dank gewerkschaftlichem Engagement die Tiefstlöhne in der Schweiz in den letzten zehn Jahren überdurchschnittlich gestiegen. Dennoch arbeitet knapp eine halbe Million Menschen zu Tiefstlöhnen in der Schweiz. Dazu kommt, dass über eine Million Menschen in der Schweiz armutsbetroffen oder -gefährdet sind. "In einem der reichsten Länder der Welt ist die Forderung nach guten Löhnen und einer angemessenen Verteilungsgerechtigkeit unverändert notwendig. Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre ist kaum bei den Arbeitnehmenden in der Schweiz angekommen", sagt Präsident und Alt-Nationalrat Adrian Wüthrich.
Im Gegenteil: "Aufgrund der anziehenden Teuerung mussten die Arbeitnehmenden 2021 nach 2017 und 2018 wieder Reallohnverluste von 0,8 Prozent hinnehmen." Hinzu komme, dass ein immer größerer Teil der Lohnerhöhungen nicht mehr generell, und damit allen beteiligten Arbeitnehmenden, sondern individuell verteilt wird. Damit wird ein Teil der Arbeitnehmenden vom Wirtschaftswachstum ausgeschlossen.
Travailsuisse hat einen 18-Punkte-Maßnahmenplan entwickelt. "In den Bereichen Lohn, Renten und Kosten zeigen wir konkrete Maßnahmen auf, um menschenwürdige Arbeit, Arbeit mit existenzsichernden Löhnen und Einkommen zu gewährleisten. Die Umsetzung der Massnahmen und damit die Stärkung der Kaufkraft müssen rasch erfolgen, damit die Kaufkraft gesichert werden kann und die Armutsquote nicht ansteigt."

Laut Claudia Stöckli, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Gewerkschaft Syna, braucht es zudem für Arbeitnehmende mit tiefen Löhnen dieses Jahr Lohnerhöhungen, die deutlich über die Teuerung hinausgehen. "Nur so kann die Kaufkraft effektiv gesichert werden." Mit dem zu erwartenden massiven Anstieg der Krankenkassenprämien drohe Haushalten ab dem 1. Jänner 2023 ein Kostenschock. "Mit den möglicherweise weiterhin steigenden Inflationsraten und steigenden Zinsen droht ihre Situation, noch schwieriger zu werden."

Philippe Gnaegi, Direktor bei Pro Familia und Dozent an der Universität Freiburg und Neuenburg, hat sich in seinem 2021 erschienenen Buch "Familienpolitik in der Schweiz" auch mit der Thematik Familien und Armut auseinandergesetzt. "Dass man heutzutage teilweise zwei Löhne braucht, um eine Familie zu ernähren, ist ein großes Problem", sagt Gnaegi. "Eine Familie kostet viel Geld und mit der Teuerung wird sich die finanzielle Situation der Familien verschlechtern."

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    Die Regierung präsentierte die neuen Maßnahmen gegen die Teuerung. Was das "Geld zurück"-Paket alles beinhaltet:
    Die Regierung präsentierte die neuen Maßnahmen gegen die Teuerung. Was das "Geld zurück"-Paket alles beinhaltet:
    APA

    Familienergänzungsleistungen könnten hierbei die problematische Lage und den täglichen Stress der Empfängerinnen und Empfänger reduzieren und hätten eine weniger stigmatisierende Wirkung als die Sozialhilfe. "Da sie zudem nicht rückerstattet werden müssen, ermöglichen sie einen nachhaltigeren Ausstieg aus der Armut innerhalb eines angemessenen Zeitraums", sagt Gnaegi. Das Problem dabei: "Lediglich vier Kantone führen Ergänzungsleistungen. Alle anderen setzen auf Sozialhilfe."

    120.000 Euro als Geschenk zum 25. Geburtstag

    In Österreich flammt indes ein älterer Vorschlag wieder auf. Am 20. März 2020 veröffentlichte "Kontrast" ein Gespräch mit dem Starökonomen Thomas Piketty. Der französische Wirtschaftswissenschafter gilt als einer der wichtigsten Ökonomen im Bereich Einkommen und soziale Ungerechtigkeit. Im Interview schlug Piketty ein komplexes neues Wirtschaftsmodell vor – Einkommenssteuer mit einem Höchstsatz von bis zu 90 Prozent inklusive.

    Außerdem enthalten: Vermögenssteuern. Aber: Gleichzeitig solle jede Person zum 25. Geburtstag ein Grundvermögen von 60 Prozent des Durchschnittsvermögens eines Landes bekommen. Laut Piketty wären das im Falle von Frankreich 120.000 Euro für alle Bürger:innen zum 25. Geburtstag, finanziert durch die Vermögenssteuer. Der Vorteil: Die soziale Ungleichheit schrumpfe, junge Menschen könnten sich Eigentum leisten oder ein Unternehmen gründen.

    *Name der Redaktion bekannt