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"Heute"-Reporter: Invasion zerreißt jetzt meine Familie

Während Russland einmarschiert, wollen Menschen fliehen. Ein Teil meiner Familie hat es geschafft, einige blieben zurück. Ich habe Angst um sie.

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<em>"Heute"</em>-Reporter Jörg Michner.
"Heute"-Reporter Jörg Michner.
zVg

Mein Vater, ein Wiener, arbeitete in den 1970er-Jahren in der damaligen Sowjetunion als Ingenieur, und zwar in der westukrainischen Industriestadt Kalusch, 120 Kilometer südlich von Lwiw (Lemberg). Dort lernte er meine Mutter an einer Bushaltestelle kennen, sie verliebten sich, heirateten und zogen nach Wien, wo ich geboren bin.

"Kommt her, bevor der Krieg kommt."

Seit Tagen bitte ich meine Verwandten: "Kommt her, bevor der Krieg kommt." Doch die Ukraine hat nun ihre Grenzen geschlossen, in erster Linie, damit Männer, wenn notwendig, für den Abwehrkampf eingezogen werden können. In Kalusch sitzen derzeit meine Cousine (46) und ihr Mann (52), deren Sohn (25), seine Frau (24) und deren dreijährige Tochter.

Meine Cousine und ihr Mann sind Ärzte, sie wollen helfen. Ihr Sohn will seine Eltern nicht im Stich lassen, seine Frau ihn nicht. Und es muss ja jemand auf Haus und Wohnung aufpassen, falls russische Soldaten oder Plünderer kommen. Doch die zwei Männer fürchten, bald in den Krieg zu müssen.

Angst vor dem Einzug ins Militär

Der Vater hat seinen zweijährigen Grundwehrdienst zuerst in der sowjetischen, dann in der ukrainischen Armee absolviert. Sein Sohn hat noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Aber der Krieg hat sie schon erreicht: Der 35 Kilometer entfernte Flughafen von Iwano-Frankivsk, wo der Sohn mit seiner Familie lebt, wurde von russischen Raketen getroffen. Aber "das war in Iwano, hier ist alles okay", will mich meine Cousine beruhigen.

Einbahn: Menschen fliehen aus Kiew.
Einbahn: Menschen fliehen aus Kiew.
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Einige konnten fliehen, nicht alle

Meine Verwandten haben sich, so wie alle, mit Lebensmitteln, Medikamenten und Benzin eingedeckt. Dokumente, Bargeld, die wichtigsten Habseligkeiten sind vorbereitet, falls man schnell fliehen muss. Ein anderer Teil meiner Familie hat noch in der Nacht auf Donnerstag das Land verlassen, Stunden, bevor der Einmarsch begann.

Zunächst fuhren meine Tante (74), die mich seit dem Tod meiner Mutter wie einen Sohn behandelt, ihre Schwiegertochter (31) und deren sechsjähriger Bub mit dem Auto nach Ungarn. Später folgten mein Cousin (38), also der Sohn meiner Tante, und meine Nichte zweiten Grades (18) in einem zweiten Auto. Da war die Grenze noch offen, sie konnten offiziell und ohne Probleme einreisen und haben sich vorerst in einem Hotel nahe Debrecen einquartiert.

Angst vor der Flucht

"Kommt her", sage ich. Mein Cousin macht sich Sorgen: "Hier ist überall Polizei. Schick mir ein Schreiben, dass wir verwandt sind und wir zu dir kommen, und eine Kopie deines Ausweises." Wer auf der Flucht ist, hat Angst vor bewaffneten Männern in Uniform. Am Donnerstag kümmerte er sich noch um organisatorische Dinge – was passiert etwa mit den Bankkonten in der Heimat? Doch sie werden zu uns kommen.

Wir leben zu viert in einem Einfamilienhaus; mit fünf weiteren Personen wird es eng. Wir brauchen zunächst mehr Betten. Und vielleicht kommen die anderen fünf nach. Dann wird es sehr eng. Aber die Familie steht zusammen.