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Ich hab wie Harry Potter einen Tarnumhang"

Heute Redaktion
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"Was dich nicht umbringt, macht dich härter - mit diesem Mantra hielt sich Kampusch im Kellerverlies am Leben. Zehn Jahre nach ihrer Flucht spricht sie in "Heute" über Denunzianten, Geld und die Kunst, sich nicht zu betäuben.

"Was dich nicht umbringt, macht dich härter“ – mit diesem Mantra hielt sich Kampusch im Kellerverlies am Leben. Zehn Jahre nach ihrer Flucht spricht sie in "Heute" über Denunzianten, Geld und die Kunst, sich nicht zu betäuben.
"Heute": Sie bedauern in Ihrem Buch, seit Ihrer Flucht immer wieder dazu gezwungen worden zu sein, "in die dunkle Vergangenheit einzutauchen". Warum sitzen Sie nun mit mir hier und tauchen in die Dunkelheit ein, wo Sie doch draußen in der Sonne spazierengehen könnten?

Natascha Kampusch: Ja, aber es ist etwas frisch. Natürlich könnte ich das tun, aber dann hätte ich Sie und Ihr nettes Team nicht kennengelernt und dürfte nicht die Fragen beantworten, die Sie vorbereitet haben. „Heute“: Hin und wieder ist das Eintauchen also auch erträglich? Kampusch: Ja. Das kommt aber immer auf die Fragen an und die Intention, die dahinter steckt.

"Heute": Ihre Selbstbefreiung war zwangsläufig eine Flucht in die Öffentlichkeit. Da hatten Sie keine Wahl. Danach irgendwie schon. Bereuen Sie heute etwas von den Dingen, die kurz danach passiert sind oder die Sie getan haben?

Kampusch: Nicht wirklich. Zur damaligen Zeit erschien mir alles, was ich tat, als sinnvoll. Aber natürlich hätte ich diverse Journalisten viel früher zur Tür hinausbeten sollen.

"Heute": Nur Journalisten? Oder auch Interessensvertreter, Psychiater, Ärzte, Anwälte?

Kampusch: Ja, schon. Aber ich war ja damals wie gestandet auf einer Insel und musste das Rettungsteam akzeptieren.

"Heute": Sie haben aber, so scheint es heute, sehr schnell erkannt, dass da etwas schiefläuft…

Kampusch: Ja, aber dafür brauchte man keine Expertin zu sein. Man sieht auch als Laie, was in diversen Situationen angebracht gewesen wäre und wie es dann in der Praxis ablief.

"Heute": Sie bedauern die "neuen Mauern", die sich in Ihrer Freiheit aufgebaut haben. Da gibt es die sichtbaren, wie Anfeindungen, das Ausschlachten Ihres Schicksals oder das Opfer-zum-Opfer-Zurechtbiegen-Wollen. Sind da auch unsichtbare, die sich Ihnen tagtäglich in den Weg stellen?

Kampusch: Ja, natürlich. Allerdings weiß ich mittlerweile genau, wo sich dann die Tür befindet. Und da gehe ich auch durch. Früher stand ich vor den Mauern und war ratlos, hab mich gefragt, ob es an mir liegt und was ich falsch mache. Jetzt versuche ich, Lösungen zu finden und damit klarzukommen.

"Heute": Was kann so eine Mauer sein?

Kampusch: Unverständnis für meine Lebenssituation, die Ignoranz und die eingeschränkte Sichtweise eines anderen Menschen.

"Heute": Man kann das aber auch umdrehen. Welche Mauern haben Sie aufgezogen, die für uns nicht sichtbar sind?

Kampusch: Ich habe wie Harry Potter einen Tarnumhang, nur, dass meiner ein Tarnpanzer ist. Der schützt mich noch viel besser vor Außeneinflüssen.

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"Heute": In Ihrem Verlies haben Sie sich u.a. mit selbst gekritzelte Parolen wie "Du steckst alles weg, wenn es sein muss" am Leben gehalten. Aber, bitte verzeihen Sie die Frage, wohin kann man das alles stecken? Was ist Ihr Ventil? Tun Sie sich weh, tun Sie anderen weh? Brüllen Sie im Wald, betrinken Sie sich?

Kampusch: Nein, das mach ich alles nicht. Ich versuche, es zu kanalisieren, zu verarbeiten, von allen Seiten zu beleuchten, um damit besser klarkommen zu können. Ich brauche kein Substitut. Das würde das Schmerzgefühl ja nur betäuben.

"Heute": Das klingt aber so wahnsinnig vernünftig. Das muss man ja auch schaffen, so zu agieren…

Kampusch: Ja, natürlich. Aber es ist möglich.

"Heute": Sagen Sie mir ein Beispiel aus der Praxis, womit Sie klarkommen müssen und vor allem – wie?

Kampusch: Als es die Anfeindungen gab, hab ich mir einfach gesagt: Dem Menschen geht es gerade nicht gut, er hat nicht genug Anerkennung, er hat nicht genug Selbstbewusstsein, vielleicht tut ihm auch die große Zehe weh. Ich hätte ja auch in seiner Situation sein können und mir dieses Bild über mich selber machen können, seine Gedanken denken und seinen Hass mir gegenüber empfinden können. Dann hab ich diese Person verstanden. Nicht auf einer logischen Ebene, aber ich konnte mich in sie hineinversetzen und ihr vergeben. Ich hab mir gesagt: So, wie dieser Mensch jetzt reagiert, ist gegen mein Interesse und meine Würde, aber er kann gerade nicht anders.

"Heute": Ist dieses Übermaß an Verständnis für Menschen, die es vielleicht gar nicht verdienen, antrainiert, oder war das immer schon ein Charakterzug von Ihnen?

Kampusch: Das war schon immer Bestandteil meiner Person. Aber natürlich, durch die diese Vielfalt an schwierigen Situationen, auch mit dem Täter, ist der Zug natürlich noch ausgereift. Als Kind zum Beispiel, im Kindergarten, begreift man das noch nicht, warum man sich nicht ärgert, wenn einem ein anderes Kind ein Spielzeug wegnimmt. Mit der Zeit habe ich verstanden, dass ich mich einfach in diese Personen reinversetzen kann. Durch das Verständnis und auch das Interesse an anderen, das ich auch immer schon hatte, gelingt mir das einfach ganz gut.

"Heute": Wenn Sie da draußen sind und zwangsläufig Menschen mit ihren Wehwehchen sehen, denken Sie dann nie: Meine Güte, was ist dein Problem?

Kampusch: Das denke ich mir selten. Ich verstehe, wenn Menschen sich ärgern, wenn ihnen die Sonnenbrille ins Gulli fällt oder wenn sie einen Strafzettel bekommen. Man darf nicht bewerten. Wenn mir aber Menschen ihre Probleme erzählen, weil sie glauben, meine damit schmälern zu können, dann denke ich mir schon: Schade, dass du das notwendig hast.

"Heute": Ein weiteres Mantra von Ihnen in Gefangenschaft: "Was dich nicht umbringt, macht dich nur härter". Ist das nicht auch ein Fluch? Wären Sie weniger stark, hätten wohl weniger leiden müssen…

Kampusch: Das kann natürlich auch möglich sein, aber ich sehe diese Stärke ja als nähernde, energiespendende Kraft. Nicht als verhärtete, zementartige Bewährung meiner Person.

"Heute": Sie vergleichen sich in Ihrem Buch mit einem "seltsamen Käfer", der, wenn auch nicht mit purer Absicht, im Eifer des Gefechts zerdrückt wird. Was ist an diesem Käfer noch heil geblieben?

Kampusch: Ich vermute, zum Glück konnte sich der Käfer wieder regenerieren, das Chitin im Panzer hat sich erneuert. Ich habe jetzt nicht mehr den Originalpanzer, aber dafür einen neuen. Was mir geblieben ist, ist die Neugier und der Optimismus, die mich durchs Leben tragen.

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"Heute": Bei Ihrer Lesung am 25. Jänner in Wien beantworten Sie auch Fragen aus dem Publikum. Warum tun Sie sich das an, wildfremde Menschen auf Zuruf über Ihr Seelenwohl zu informieren?

Kampusch: Ich hab herausgefunden, dass das oft Menschen sind, die viel Anteilnahme zeigen. Sie haben sich das Buch gekauft und gelesen und dürfen auch legitime Fragen stellen, weil Sie mit mir mitleben. Mit der kleinen Natascha, die im Verlies eingesperrt war, und mit meinem jetzigen Ich.

"Heute": Fürchten Sie nicht, dass auch eben jene kommen werden, von denen Sie meinen, denunziert zu werden?

Kampusch: Die ignoriere ich. Wenn sie da sind, sind sie da. Ich sag ihnen nicht "Auf Wiedersehen", aber ich bitte sie auch nicht näher.

"Heute": Sie beschreiben im Buch sehr ehrlich, was Ihr Schicksal mit Ihren Eltern gemacht hat und immer noch macht. Aus Liebe haben Sie ihnen viel verziehen – was verzeihen Sie Ihren Eltern aber nicht?

Kampusch: Es sind Kleinigkeiten, wie Aussagen meines Vaters in den Medien. Ich heiße vieles nicht gut, aber ich verzeihe es ihnen. Weil ich denke, dass ich da noch Glück gehabt habe. Es gibt so viele Menschen, die mit ihren Eltern ganz schlimme Sachen erleben. Jeder muss sich mit seinen Eltern arrangieren, das müssen Eltern auch mit ihren Kindern.

"Heute": Wie schaut ein ganz normaler Tag bei Ihnen aus? Lesen Sie in der Früh Zeitungen? Haben Sie ein iPhone 6? Gehen Sie in Bobo-Lokale und trinken dort Hugo?

Kampusch: Ich trinke keinen Alkohol. Wenn, dann nur, wenn er in Bachblüten enthalten ist, im Tiramisu oder in der Mundspülung –keine Sorge, ich trinke auch keine Mundspülung. Ich hab ein iPhone, aber kein Sechser. Ich plane meinen Tag meistens abends, damit ich weiß, was auf mich zukommt. Es kann sein, dass ich Freunde treffen, aber selten in Bars. Lieber in einer Hotellobby. Manchmal ist der Tag auch meiner Ausbildung gewidmet.

"Heute":Wo stehen Sie da im Moment?

Kampusch: Jetzt bin ich hauptsächlich mit der Buch-Promotion beschäftigt. Ich will aber bald wieder zu diesen Maturaprüfungen, um die Matura zu machen und später studieren zu können. Ich will auch weiter Bücher herausbringen und Projekte im Kunst- und Medienbereich machen.

"Heute": Das Bücherschreiben beschränkt sich also nicht nur auf die Aufarbeitung Ihrer Vergangenheit, sondern hat durchaus auch Potenzial zum beruflichen Standbein?

Kampusch: Ja. Psychologie, Pädagogik, Gesellschaftskritik und Philosophie sind Themen, über die ich gerne schreiben würde. Es kann aber auch etwas Künstlerisches sein, ein Sach- oder auch ein Kochbuch.

"Heute": Kochen Sie gerne?

Kampusch: Ja, ich finde es spannend, Dinge zu vermengen und neu zu kreieren.

"Heute": Wie finanzieren Sie Ihren Alltag?

Kampusch: Ich habe noch Einnahmen aus dem allerersten Interview, ich habe Praktika gemacht und dabei etwas verdient und ich lebe von einem Teil der Spenden. Das meiste hab ich aber weitergespendet.

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"Heute": Brauchen Sie viel Geld?

Kampusch: Nein, ich versuche, mich so bescheiden und maßvoll wie möglich zu verhalten. Nur bei Schuhen und Kleidung kann ich nicht widerstehen.

"Heute": Was bedeutet Freiheit für Sie?

Kampusch: Vor allem Freiheit im Geiste, und natürlich Gleichheit. Nicht im Sinne von gleichgeschalteten Drohnen einer imaginären Weltmacht. Es geht darum, dass sich jeder entfalten darf. Ohne dabei einem anderen Menschen zu schaden.

"Heute": Hatten Sie dieses Recht in den letzten zehn Jahren?

Kampusch: Ja, immer wieder. Aber Freiheit ist auch ein Selbstverständnis. Wenn man es schafft, so zu leben und sich auch nicht einschränken lässt, kommt die Freiheit zu einem zurück. Ich musste lernen, auch dank der Medien, dass man sich Freiheiten nehmen und seine Grenzen auf jeden Fall einhalten muss. Dann berühren mich Dinge auch nicht so sehr.

"Heute": Was sind Momente, in denen Sie sich frei fühlen?

Kampusch: Wenn ich spazieren gehe und den eisigen Wind im Gesicht spüre, wenn ich ein gutes Buch lese.

"Heute": Der Einbruch vergangene Woche in das Haus Ihrer Gefangenschaft in Strasshof – wenn Sie das lesen, was geht da in Ihnen vor?

Kampusch: Dass die Medien darüber berichteten, empfinde ich als Eindringen in meine Intimsphäre. Wenn Journalisten das tun wollen oder müssen, um ihre Miete zu zahlen, dann sollen sie es tun. Der Einbruch an sich berührt mich nicht so, da sie ja nicht wussten, welches Haus das ist. Wenn es ein Journalist gewesen wäre, der mir nachspioniert, hätte mich das mehr getroffen.

"Heute": Ist das Haus noch in Ihrem Besitz?

Kampusch: Ja, ich denke zwar immer wieder über den Verkauf nach, aber ich bin noch zu keinem Schluss gekommen, was künftig damit passiert.

"Heute": Sie gönnen sich also schon, Dinge einfach von sich wegzuschieben?

Kampusch: Natürlich. Man muss ja nicht alles sofort bewältigen, man muss sich auch nicht überfordern. Da will ich künftig auch nachsichtiger mit mir sein.

"Heute": Sie widmen dieses Buch allen "tapferen Frauen, die für ihre Unabhängigkeit kämpfen". Was sollen sie aus der Lektüre mitnehmen?

Kampusch: Ich hoffe, dass sie merken, dass man vieles überstehen kann. Dass es nicht leicht ist und mit Schmerzen verbunden ist, aber mit der Zeit ist es machbar. Man kann sich immer entscheiden, ob man sich von der Vergangenheit gefangen nehmen lässt, oder ob man in die Zukunft blickt. Man muss den Mut haben, diese Entscheidung auch zu fällen.

"Heute": Wie verbringen Sie Weihnachten?

Kampusch: Mit meinen Verwandten. Ich werde meine Runden drehen und Geschenke, Kekse und gute Laune verteilen.

"Heute": Was wünschen Sie sich vom Christkind?

Kampusch: Ein gemeinsames Foto.

"Heute": Keine Schuhe?

Kampusch: Nein, die suche ich mir lieber selber aus.