Politik

"Ohne Kurzarbeit hätten wir 300.000 Corona-Arbeitslo...

Heute Redaktion
Teilen
Picture

Gewerkschaftsboss Wolfgang Katzian (63) spricht im großen Sonntagsinterview mit "Heute" über die Jobkrise wegen Corona, wie mit Kurzarbeit nun gegengesteuert werden soll und erklärt, warum der Sozialstaat nun die Menschen auffangen muss.

"Heute": Herr Katzian, wie viele Menschen haben seit Beginn der Coronakrise ihren Job verloren?

Wolfgang Katzian: 170.000, Tendenz leider steigend. Täglich kommen derzeit rund 23.000 Meldungen beim AMS dazu. Ich muss aber auch sagen, dass wir circa 25.000 Betriebe in Österreich haben, die derzeit dabei sind, Kurzarbeit einzureichen oder dies schon getan haben.



"Heute": Das betrifft vermutlich nicht nur Klein- und Mittelbetriebe?

Katzian: Ganz im Gegenteil. Diese Krise betrifft alle. Mit dem Instrument der Kurzarbeit kann aber kleinen Betrieben mit zehn Arbeitnehmern gleichermaßen geholfen werden wie etwa den Austrian Airlines oder der Voest mit vielen tausend Beschäftigten. Am Ende des Tages geht es um unglaublich viele Einzelschicksale, es ist daher in einem Kraftakt der Sozialpartner mit der Bundesregierung wirklich Großes gelungen. Wir dürfen in dieser schweren Zeit einfach niemanden zurücklassen, auch, wenn es Geld kostet. Der Sozialstaat war noch nie so wichtig.



"Heute": Die Arbeitslosenzahl ist enorm explodiert. Wie hätte sie sich ohne die Corona-Kurzarbeit entwickelt?

Katzian: Die Zahl der Arbeitslosen wäre noch dramatisch höher. Ich schätze um das Doppelte – also rund 300.000 zusätzliche Arbeitslose, wenn nicht sogar noch mehr. Daher war es so wichtig, die Kurzarbeit so schnell durchzusetzen. Wir entdecken jetzt noch täglich Verbesserungspotential und adaptieren das Modell laufend. Wichtig: Jemand, der schon eingereicht hat, braucht dies nicht noch einmal tun. Alle Verbesserungen werden automatisch berücksichtigt.

"Heute": Wer schnell hilft, hilft doppelt: Wie rasch erfahren Betriebe, ob ihre Kurzarbeit bewilligt wird?

Katzian: Wenn ein gut vorbereiteter und richtig ausgefüllter Antrag vorliegt, haben wir uns verpflichtet, binnen 48 Stunden zu bewilligen.

Katzian: "Wir raten davon ab, sofort einvernehmliche Kündigungen zu unterzeichnen."

"Heute": Welche Probleme entdecken Sie bisher bei dem Modell?

Katzian: Wir bekommen natürlich auch jeden Tag Informationen über Unternehmen, die die Kurzarbeit ausnützen und den Staat betrügen möchten. Ich bin keiner, der da gleich einen Wirbel macht, aber wir prüfen natürlich jeden einzelnen Vorwurf. Unsere Hotline glüht jetzt zum Monatsschluss. Beschäftigte erzählen uns dort, dass ihr Betrieb sie nötigen möchte, per sofort eine einvernehmliche Kündigung zu unterzeichnen, damit andere in Kurzarbeit geschickt werden können. Die Menschen würden hier aber Ansprüche verlieren – wir raten dringend davon ab. Und dann gibt es natürlich die Fälle, wo Leute auf Kurzarbeit geschickt werden, aber weiter 40 Stunden arbeiten sollen. Das ist nicht in Ordnung. Im Gegenteil: Das ist Betrug. Wir gehen diesen Dingen nach



"Heute": Was geschieht mit solchen Unternehmen?

Katzian: In einem ersten Schritt machen wir sie auf das Vergehen aufmerksam. Wenn dann nichts passiert, zeigen wir die Firma an.



"Heute": Jungen Menschen sagt die Sozialpartnerschaft kaum noch etwas. Wozu braucht es für all das die Gewerkschaft?

Katzian: Sie haben recht, normalerweise läuft vieles von dem was wir tun in ruhigen Bahnen und im Hintergrund ab. Aber ich sage Ihnen: Dass es einen Sozialstaat gibt, der jetzt die Menschen auffängt, ein Gesundheitssystem, das alle unabhängig vom Einkommen gut behandelt; dass es Pensionen gibt, ein Arbeitsrecht,…dass es all diese Rahmenbedingungen gibt – das ist das Werk der Gewerkschaften. Ebenso wie das Weihnachts- und Urlaubsgeld im Kollektivvertrag.

Katzian: "Wir gehören nicht auf die Müllhalde der Geschichte. Im Gegenteil."

"Heute": Das ist durchaus ehrenwert, aber alles längst umgesetzt. Seit Jahrzehnten.

Katzian: Ja, schauen Sie sich jetzt die Situation, die wir jetzt in Österreich haben, an und vergleichen Sie das mit anderen Ländern. Mit England – wo es einen Micky-Maus-Betrag Krankengeld gib. Mit den USA und ihrem Gesundheitssystem. Die sind keine Hidden Champions, die haben den Sozialstaat kaputt gemacht und stehen nun vor den Scherben ihrer Politik der letzten Jahre. Da haben wir uns gerne als Bremser bezeichnen lassen, als wir das für Österreich nicht wollten. Nein, die Gewerkschaft gehört nicht auf die Müllhalde der Geschichte. Im Gegenteil.



"Heute": Wie ist Ihr Kontakt zur Regierung?

Katzian: Die Gesprächsbasis ist besser als unter Türkis-Blau. Wir haben den Eindruck, dass die Regierung auf uns zugeht und wichtige Schritte mit uns abstimmen möchte. Ein Stück weit österreichische Normalität und ich würde mich freuen, wenn dies auch nach der Krise anhält.

Video: Was ist eigentlich Kurzarbeit?

"Heute": In der Krise wirkt es plötzlich so, dass alles geht in dem Land. Dinge, über die sonst monatelang debattiert werden, in Tagen umgesetzt sind. Mussten Sie nur ins Kanzleramt gehen und die Hand aufhalten?

Katzian: (lacht) Nein, das war leider nicht ganz so einfach. Ich habe in den letzten Wochen jeden Tag zwischen 15 und 16 Stunden verhandelt, telefoniert, geskypt und mich persönlich mit den Entscheidungsträgern getroffen. Und es geht weiter. Die ursprünglichen 400 Millionen für die Kurzarbeit sind aufgebraucht, da sehr viele dieses Modell in Anspruch nehmen wollen. Am Wochenende hat die Regierung den Betrag daher auf eine Milliarde aufgestockt. Das ist ein wichtiger Schritt. So ist nämlich sichergestellt, dass alle, die dieses Modell in Anspruch nehmen müssen, dies auch tun können. Eines kann nämlich nicht sein: Dass für die Unternehmen jetzt alles getan wird und die Arbeitnehmer auf der Strecke bleiben. Daher muss das gut ausfinanziert sein.



"Heute": Es gilt also nicht "First come, first served"?

Katzian: Nein, wenn mehr Geld notwendig sein sollte, wird es mehr Geld geben.



"Heute": Verhält sich die SPÖ nicht etwas zu passiv in dieser Krise? Arbeitnehmer waren doch immer die Kernklientel der SPÖ.

Katzian: Das glaube ich nicht. Es ist wichtig, dass es einen nationalen Schulterschluss gegeben hat. Die SPÖ hat einen eigentlich gescheiten Vorschlag gemacht, nämlich, dass Betriebe, die eine Förderung bekommen, keine Leute rausschmeißen dürfen – er hat halt leider keine Mehrheit gefunden. Die Performance passt schon, jetzt ist auch keine Zeit für Wahlkampf.

Katzian: "Ich bin zu 150 Prozent damit ausgelastet, für die Arbeitnehmer dazusein."

"Heute": Es bereitet Ihnen ernsthaft kein Kopfzerbrechen, dass der Kanzler seine Beliebtheitswerte massiv verbessert und 77 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung hat?

Katzian: Meine Gedanken sind derzeit nur bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Land. Damit bin ich zu 150 Prozent ausgelastet. Alles andere werde ich mir nachher überlegen.



"Heute": Wie oft müssen Sie bei den vielen Gesprächsrunden den Handyakku aufladen?

Katzian: Vier Mal täglich. Ich stehe um 5 Uhr auf und lege mich um 23 Uhr nieder. Abgeschaltet wird das Handy nur beim Schlafen, Mittagessen und wenn ich am Rad fahre.



"Heute": Der Gewerkschaftschef ist also nicht in Kurzarbeit.

Katzian: Nein, eher in Doppelarbeit. Aber das ist völlig klar, die Situation erfordert es. Die Österreicher haben sich immer auf die Gewerkschaft verlassen können, können dies jetzt und werden es auch in Zukunft können. Es wäre übrigens jetzt ein guter Zeitpunkt, der Gewerkschaft beizutreten, denn wir leben ausschließlich von den Beiträgen unserer Mitglieder. Darauf sind wir sehr stolz.



"Heute": Wie kommen Sie persönlich durch die Krise?

Katzian: Ich bin fit, arbeite sehr viel vom Home Office aus. Beim ÖGB haben wir uns in Teams aufgeteilt, die Hygienemaßnahmen erhöht und extra einen Sitzungssaal umgestellt. Wir halten dort zwei bis drei Meter Abstand, das wirkt ein bisschen skurril, ist in Zeiten wie diesen aber notwendig.



"Heute": Viele Arbeitnehmer belastet die Home-Office-Situation massiv.

Katzian: Ich verstehe das. Mir gehen meine Kollegen auch sehr ab. Dass man sich austauschen kann, einmal einen Schmäh machen kann,…ich meine, ich verstehe mich mit meiner Frau Gott sei Dank auch gut – aber es ist natürlich schon etwas anderes und kann ja auch nicht ewig so weitergehen. Das ist allen klar.



"Heute": Sie sind großer Fußballfan – wann sehen Sie die Austria wieder im Stadion?

Katzian: Ach, ich befürchte, dass die Einschätzung, dass wir im Mai wieder spielen, zu optimistisch ist. Vor allem hat der Gesundheitsminister gestern ja prognostiziert, dass der Höhepunkt der Coronawelle zwischen Mitte April und Mitte Mai sein wird.



"Heute": Die Kicker der Austria sind auch in Kurzarbeit?

Katzian: Ja, bis auf Red Bull Salzburg und LASK haben alle Vereine Kurzarbeit angemeldet. Aber ich habe keine operative Funktion mehr. Ich bin leidenschaftlicher Fan, so wie Sie auch.

Drohnen-Video zeigt das leergefegte Wien