Ukraine

"Magen umdrehen" – Heeres-Oberst mit Ukraine-Warnung

Die erwartete Gegenoffensive der Ukraine sorgt für Spekulationen. Oberst Markus Reisner warnt davor, die russische Armee zu unterschätzen.

Roman Palman
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Bundesheer-Oberst Markus Reisner warnt davor, die russische Armee zu unterschätzen. Im Hintergrund russische 120mm-Mörser vom Typ 2S9 "Nona" im Kampfeinsatz in der Ukraine.
Bundesheer-Oberst Markus Reisner warnt davor, die russische Armee zu unterschätzen. Im Hintergrund russische 120mm-Mörser vom Typ 2S9 "Nona" im Kampfeinsatz in der Ukraine.
Bundesheer/Kristian Bissuti; Russisches Verteidigungsministerium via AP / picturedesk.com

Wo bleibt die groß angekündigte Gegenoffensive der Ukraine? Oder hat sie bereits begonnen? Oberst Markus Reisner des Österreichischen Bundesheeres sieht bei seiner jüngsten Analyse des Kriegsgeschehens zwar bereits laufende Vorbereitungen, ein Testen von Lücken in der russischen Verteidigung, doch "das ist nicht die eigentliche Offensive".

Den Hauptgrund für die Verzögerung, die den im Frühjahr erwarteten Schlag womöglich in den Sommer verschieben wird, sieht der dekorierte Offizier und Militärhistoriker im Interview mit der deutschen "Zeit" weiterhin im Wetter. Der Jahresbeginn sei in der Ukraine vergleichsweise regenreich gewesen, die Böden entsprechend aufgeweicht.

"Spätestens im Juni"

Das Phänomen, das dort auch "Schlammzeit" genannt wird, verhindere Offensiven mit schwerem Gerät durch freies Gelände. Ein deutscher Leopard 2 Kampfpanzer, der mehr als 60 Tonnen wiegt, "würde einfach im Schlamm steckenbleiben", so Reisner. "Aber spätestens im Juni, wenn es heiß wird, wird es auch trocken genug sein". 

Die ukrainische Armeeführung versuche natürlich auch die Russen, und damit nebenbei den Rest der Welt, so lange wie möglich über die Details zum Zeitpunkt der Offensive im Dunklen zu lassen. Doch egal, wann der Schlag erfolgen sollte: "Leicht ist das in jedem Fall nicht", warnt der Heeres-Oberst.

"Die Russen haben große Minenfelder angelegt, dazu Gräben und Sperren, um Panzer aufzuhalten. Diese Hindernisse müssen die Ukrainer erst einmal räumen. Angreifen ist immer schwerer, als zu verteidigen."

Und: die Verluste für Angreifer seien immer höher als jene der Verteidiger. Darauf müssten sich die Ukrainer und auch die Welt gefasst machen. 

Kampfflugzeuge für Offensive "wesentlich"

Eine starke Meinung hat Reisner auch beim Thema Lieferung von Kampfflugzeugen. Da hatte es aus dem Westen zuletzt viele Absagen gegeben, mit der Begründung, dass Flugabwehr viel wichtiger sei. "Einem Militärexperten muss sich bei solchen Aussagen eigentlich der Magen umdrehen. Denn für eine Offensive ist es wesentlich, den Luftraum zu kontrollieren", donnert der Leiter der Forschung- und Entwicklungsabteilung an der Militärakademie Wiener Neustadt.

Er erinnert an die Landung der Alliierten in der Normandie 1944, den D-Day, der ohne vorbereitende Luftangriffe auf Nachschublinien womöglich ganz anders ausgegangen wäre. Durch die Flieger sei aber das Nachrücken deutscher Panzerdivisionen an die Küste verhindert worden. 

Doch nicht jeder Flieger wäre gleich hilfreich für die Ukraine. Reisner hat dabei ein Mehrzweckkampfflugzeug, das besonders einfach zu warten und einzusetzen ist, im Sinn.

"Auch Angriffe gegen die gegnerische Flugabwehr und gezielte Bombardements mit gelenkten Waffen wären wichtig. Der Westen tut sich schwer mit den Lieferungen, aber der Ukraine würde es helfen." Gleichzeitig brauche die Ukraine natürlich auch mehr Luftabwehr. Ohne wären ukrainische Panzer den russischen Jets völlig ausgeliefert.

"Warne davor, die russische Armee zu unterschätzen"

Reisner hat aber auch eine ausdrückliche Warnung für die Ukrainer im Gepäck. Die russische Armee trete derzeit kaum in Erscheinung und agiere aus dem Verborgenen heraus. Auch medial sichtbar wären aktuell nur die Kämpfe um Bachmut, die jedoch von den Wagner-Söldnern angeführt werden.

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    Seit dem 1. August 2022 tobt eine erbitterte Schlacht um die ostukrainische Stadt Bachmut.
    Seit dem 1. August 2022 tobt eine erbitterte Schlacht um die ostukrainische Stadt Bachmut.
    REUTERS

    Im Westen würden viele Beobachter deshalb bei ihrer Darstellung der Schwächen der russischen Armee übertreiben. "Ich warne daher davor, die russische Armee zu unterschätzen. Die Russen sind weiterhin ein ernst zu nehmender Gegner, auch wenn sie immer wieder schier unglaubliche Fehler machen. Aber noch liegen sie nicht am Boden. Es hilft nicht, wenn wir uns die Situation schönreden, am wenigsten hilft es der Ukraine."

    Entscheidende Faktoren

    Doch was wäre ein Weg zum Sieg? "Die Ukraine ist immer dann erfolgreich, wenn sie beweglich kämpft". Doch genau das notwendige Momentum habe die russische Armee immer wieder für sich mitnehmen und so die Verteidiger in einen blutigen Stellungskrieg drängen können. In einer solchen Abnützungssituation hätten Putins Truppen aufgrund ihrer generell größeren Waffen- und Soldatenreserven sowie größeren Anzahl an Artillerie-Geschützen im Feld bessere Karten. 

    "Daher muss die Ukraine unbedingt in die Offensive gehen", so Reisner. Dazu brauche es ein flexibel denkendes und selbstständiges Führungskorps. Weil mittlerweile auf beiden Seiten immer mehr Reservisten mit noch alten sowjetischen Denkmustern – die frühere Sowjet-Doktrin war geprägt durch starre Befehlsketten – an die Front geworfen werden, sei die Ausbildung ukrainischer Kräfte im Westen umso wichtiger. Das Erlernen von NATO-Taktiken gebe einen deutlichen Vorteil.

    Und noch einen Unterschied gebe es, der nicht unterschätzt werden dürfe: die Kampfmoral. "Die Ukrainer sind davon beseelt, ihr Land zu befreien, die russischen Soldaten fragen sich hingegen zunehmend, was sie dort eigentlich sollen."

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      Getreidefarmer Oleksandr Klepach vor seinem von einem Schützengraben völlig zerfurchten Feld in Snihuriwka, Oblast Mykolajiw, im Februar 2023.
      Getreidefarmer Oleksandr Klepach vor seinem von einem Schützengraben völlig zerfurchten Feld in Snihuriwka, Oblast Mykolajiw, im Februar 2023.
      REUTERS/Lisi Niesner