"Genauso, wie man schleichend in diese Krankheit hineinkommt, genau so schleichend kommt man auch wieder raus", erzählt Anna F. (Name geändert) im Gespräch mit "Heute". Im Alter von 15 Jahren entwickelte die heute 33-Jährige eine Essstörung, wurde schließlich magersüchtig: "Ich war nie wahnsinnig dünn, vom Erscheinungsbild her war ich durchschnittlich. Ich hab' mich oft hässlich gefühlt, nicht gut genug, da war einfach viel Verunsicherung."
Diese Verunsicherung, vor allem bezüglich ihres Körpers, wurde bei Anna F. damals noch durch eine TV-Sendung forciert: "Ich sah die erste Staffel von 'Germany's Next Topmodel'. Dadurch habe ich mich viel mit meinem Äußeren beschäftigt. Ich hab' mich gefragt: 'Könnte ich da mitmachen?' Und meine Antwort war: 'Nein, eigentlich bin ich zu dick!'", erzählt die gebürtige Deutsche, die seit sieben Jahren in Wien lebt.
„"Mein Vater meinte zu mir: 'Man sieht ja, du wirst irgendwann einmal so fett werden wie deine Mutter'" - Anna F.“
Die 33-Jährige hatte immer schon eine schwierige Beziehung zu ihrem Vater: "Als sich meine Eltern scheiden ließen, hat er mir die Schuld an der Trennung gegeben. Er hat auch Kommentare abgegeben, die unter die Gürtellinie gingen. Als ich nach einem einmonatigen Schüleraustausch etwas zugenommen hatte, meinte er zu mir: 'Man sieht ja, du wirst irgendwann einmal so fett werden wie deine Mutter'", erinnert sich Anna F.
Die Jugendliche hatte das Gefühl, "voll dick geworden zu sein" und fing mit Kalorienzählen an: "Ich habe begonnen, das Essen abzuwiegen – jede einzelne Zutat. Ich habe maximal 1.500 Kalorien pro Tag zu mir genommen. Ich habe nur winzige Portionen gegessen, etwa 100 Gramm Reis mit ganz wenig Soße. Wenn meine Mutter mir zusätzlichen Reis auf den Teller gelegt hat, habe ich sie angeschrien." Auch das Sport-Training betrieb die Jugendliche immer exzessiver: "Ich bin vier- bis fünfmal pro Woche vor der Schule joggen gegangen."
„"Ich wusste, ich darf nicht langfristig im Untergewicht bleiben, weil so mein Kopf nicht funktioniert." - Anna F.“
Dass dieses Verhalten krankhaft und schädlich für sie war, sah Anna F. damals (noch) nicht: "Ich war begeistert, wie viel Kontrolle ich über meinen Körper ausüben kann. Ich erzählte meinen Mitschülerinnen, wie toll das ist." Doch die Auswirkungen ließen nicht lange auf sich warten: "Ich bekam meine Tage nicht mehr, konnte mich nicht mehr konzentrieren. Meine Schulnoten sackten rapide ab."
Als Rettungsanker für die damals 18-Jährige – sie wog bei einer Größe von 1,74 Meter nur noch 57 Kilogramm – erwies sich ihr schulischer Ehrgeiz: "Der Ärger in der Schule hat mehr gewogen, als die Sucht. Ich war eine der besten. Ich wusste, ich darf nicht langfristig im Untergewicht bleiben, weil so mein Kopf nicht funktioniert. Also habe ich langsam die Kalorien erhöht und es schließlich geschafft, wieder normal zu essen", berichtet die Wahl-Wienerin.
Zehn Jahre lang blieb die Magersucht "unter der Oberfläche", doch vor rund vier Jahren kam sie langsam wieder zum Vorschein: "Mein damaliger Freund war ein bisschen übergewichtig. Er entwickelte eine Essstörung. Er hat in ganz kurzer Zeit viel abgenommen, bis er im Untergewicht war. Das hat mich neidisch gemacht und unglaublich getriggert", blickt die studierte Soziologin zurück.
Das Paar stritt sehr viel, vor allem über das Essverhalten, die Beziehung zerbrach schließlich: "Obwohl ich wusste, dass dieses Verhalten schädlich für mich ist, begann ich wieder mit dem Kalorienzählen." Doch die Vernunft siegte: "Ich rief bei der Hotline für Essstörungen an und bekam dann sehr rasch einen Therapieplatz bei 'sowhat'", so Anna F.
"sowhat" - Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen
"sowhat" ist laut eigener Angabe die größte ambulante Einrichtung zur Behandlung von Menschen mit Essstörungen in Österreich. Seit 2017 gehört es zur Vinzenz Gruppe. An drei Standorten (Wien, Mödling, St. Pölten) beraten und behandeln Experten aus Allgemeinmedizin, Psychotherapie, Psychologie, Physiotherapie, Bewegung, Ernährung, Sozial- und Angehörigenarbeit. An allen drei Standorten bestehen Verträge mit der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) und der Sozialversicherung der Selbständigen (SVS). Das Programm dauert zwischen zwei und drei Jahren.
„"Es ist unglaublich, wie umfangreich die Krankheit mein Denken beeinflusst hat. Es ist befreiend, dass es jetzt nicht mehr so ist." - Anna F.“
Seit zwei Jahren absolviert die 33-Jährige, die derzeit als Dolmetscherin arbeitet, in dem Kompetenzzentrum für Essstörungen eine Therapie, geht ganz offen mit ihrer Erkrankung um: "Mein Essverhalten ist schon ganz in Ordnung, beim Sport ist mein zwanghaftes Verhalten noch da. Insgesamt geht es mir schon viel besser. Es ist unglaublich, wie umfangreich die Krankheit mein Denken beeinflusst hat. Es ist befreiend, dass es jetzt nicht mehr so ist. Durch die Therapie bin ich neugierig geworden. Ich freu' mich, nicht krank zu sein und keine Angst zu haben, dass das Leben jetzt anders ist."