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Mit Computerwelten gegen reale Ängste

Heute Redaktion
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Nach Schätzungen leidet rund 29% der Weltbevölkerung an zumindest einer Angststörung. Im Wiener Zentrum „Phobius" können Patienten ihre Ängste mithilfe von Virtual Reailty endgültig besiegen.

Löst bei Ihnen der Gedanke an Spinnen, enge Räume oder Höhen erhöhten Puls, Nervosität oder gar Schweißausbrüche aus? Dann steht die Chance gut, dass Sie an einer Phobie leiden. Egal, ob Höhenangst, die Angst vor Insekten oder Flugangst: Es gibt kaum etwas, gegen das sich nicht eine Angststörung entwickeln kann. Derzeit seien über 600 verschiedene Arten von Phobien bekannt, heißt es auf der Webseite von "Phobius".

Frei nach dem Zitat des französischen Philosophen Michel de Montaigne ist "das einzige, was wir zu fürchten haben, die Furcht selbst". In dieselbe Kehre schlagen die Psychologen Christian Dingemann und Johannes Lanzinger (beide 30), die seit 2017 die Phobien ihrer Patienten heilen.

"Phobius" ist das erste Ängste-Zentrum im deutschsprachigen Raum, das zur Behandlung von Phobien auf Virtual Reality setzt. Dabei werden bewährte, psychologische Behandlungsmethoden mit innovativer Technologie verknüpft.

Phobien sind übertriebene, irrationale Ängste

"Jeder von uns hat angeborene Ängste, das ist etwas ganz Normales und Gesundes. Damit warnt uns unser Gehirn vor Gefahren und ermahnt uns, vorsichtig zu sein. Problematisch wird es aber, wenn die Ängste beginnen, das alltägliche Leben einzuschränken", erklären die Psychologen.

Wissenschaftlich werden Phobien zur Gruppe der Angststörungen gezählt. "Von einer Phobie spricht man, wenn man übermäßige Angst vor eigentlich ungefährlichen Dingen oder Situationen hat", erklärt Dingemann. So sei es ein Unterschied, ob jemand auf einer 1,5m hohen Leiter oder vor einem 200m tiefen Abgrund steht. Was für Menschen ohne Höhenangst kein Problem ist, kann für Phobiker schnell eine echte Einschränkung bedeuten.

So wie bei Bernhard S.,(Name von der Redaktion geändert, Anm.), der sich wegen seiner Höhenangst an die Experten bei "Phobius" wandte. "Als Kind hatte ich gar keine Angst. Da hieß es, je höher, desto besser", erzählt der 47-Jährige im Gespräch mit "Heute". Vor zehn Jahren jedoch begann sich die Höhenangst langsam einzuschleichen.

So bekam der begeisterte Schifahrer auf Sesselliften plötzlich Herzrasen. "Ab da war meine Höhenangst schon ziemlich ausgeprägt. Sie hat zwar mein alltägliches Leben nicht beeinträchtigt, mich aber schon gestört".

"Reptiliengehirn entscheidet zwischen Kampf oder Flucht"

"Bei einer Phobie ist die angstauslösende Situation oder das Objekt nicht das eigentliche Problem, sondern vielmehr die falsche Interpretation davon", betont der Psychologe. Dabei ist es dem menschlichen Körper egal, ob die Gefahr tatsächlich besteht oder nur in unserer Vorstellung besteht.

Sobald wir einen angstauslösenden Reiz wahrnehmen, stößt der Körper Adrenalin aus. Das Gehirn reagiert kognitiv auf den Körperstress und ruft das "Kampf oder Flucht"-Programm ab. Wie Lanzinger erklärt, gibt es aber noch eine dritte Handlungsalternative: Die Schockstarre.

Dabei sinkt der Puls, die Muskeln versteifen sich und wir verlieren die Kontrolle über unseren Körper. "Es fühlt sich an, als wäre man versteinert und wie am Boden festgewachsen", so Dingemann.

"Konfrontation ist der Schlüssel zum Erfolg"

Schon in den 1960er Jahre setzten sich Konfrontationstherapien bei der Behandlung von Phobien durch. "Tatsächlich ist die Auseinandersetzung mit dem angstauslösenden Gegenstand oder der Situation der Schlüssel zur Heilung", betont Dingemann.

Grund dafür ist, dass Phobien aus Vermeidung heraus entstehen. "Jedesmal wenn wir eine Situation oder ein Objekt vermeiden, lernt unser Unterbewusstsein ein Stückchen mehr, dass das etwas ist, wovor man acht geben sollte. Über Monate oder Jahre hinweg züchtet man sich so Phobien an", erklärt der Psychologe.

Schritt für Schritt-Behandlung

So wie irrational übertriebene Ängste Schritt für Schritt entstehen, so lassen sie sich auch Schritt für Schritt abbauen. Im Zentrum "Phobius" erfolgt das in der sicheren Umgebung des Behandlungszimmers. Die Behandlung erfolgt in drei Stufen: "Zuerst kommt die Aufklärung, dann das Erlernen von Atem- und Entspannungstechniken. Der herausforderndste Schritt ist schließlich die Konfrontation", erklärt Dingemann.

Der erste Schritt ist ein ausführliches Gespräch, bei dem die Entstehungsgeschichte der Phobie erforscht und anschließend erklärt wird, wie der Körper auf angstauslösende Reize reagiert und wie die Verbindung zwischen Geist und Körper funktioniert. Danach erlernen die Patienten Techniken, wie sie sich selbst beruhigen und entspannen können. "Dazu zählen etwa Atemtechniken oder progressive Muskelrelaxation. Wir geben unseren Kunden auch 'Hausaufgaben' mit, um das Gelernte in der Freizeit zu vertiefen", erzählt Lanzinger.

Von Bildern zur "bewegten Angst"

Der dritte Schritt ist dann die tatsächliche Konfrontation mit der Angst. Zunächst werden Bilder gezeigt, je nach Ausprägung der Phobie werden dieser immer grafischer. Wer beispielsweise an einer starken Spinnenphobie leidet, bekommt zunächst nur "Comic-Spinnen" zu sehen. Stufenweise werden aus den gezeichneten Krabblern immer realistischere Bilder – bis hin zu Nahaufnahmen der Mehrfachaugen.

Durch die wiederholte Auseinandersetzung lernen die Kunden Schritt für Schritt ihre Angst zu besiegen. "Desensibilisierung heißt in diesem Zusammenhang, dass die Patienten lernen, dass die Spinnen doch nicht so schlimm sind", sagt Dingemann.

Der schwerste Schritt ist dann die Konfrontation in 3D. "Wir simulieren die angstauslösenden Situationen und Objekte mithilfe eines Hochleistungs-PC und einer VR-Brille. Sensoren, die an den Wänden des Behandlungszimmers befestigt sind, erfassen die Bewegungen im Raum", ergänzt Lanzinger. Mithilfe von Touchpads, die in der VR-Welt zu Händen werden, ist der Patient in der Lage mit Gegenständen zu interagieren. Zum Beispiel Knöpfe in einem Lift zu drücken oder Spinnen zu streicheln.

VR-Brille schafft Rund-um-Erlebnis

"Unsere VR-Brille lässt keine Ränder erkennen. Die virtuelle Welt umschließt den Patienten und lässt Bewegungen in ihr zu. Durch diese hohe Immersion glaubt das Gehirn die Situation ist real", erklärt Dingemann.

Wie real, zeigt sich, wenn die (immer größer werdenden) Spinnen plötzlich zu krabbeln beginnen und als "bewegte Angst" auf einen zukommen. Es lässt sich aber auch eindrucksvoll bei der Simulation von Höhe erleben. So wartet etwa nach einer virtuellen Liftfahrt in einem Hochhaus auf rund 80 Metern Höhe eine etwa 30cm breites Holzbrett. Auch wenn man keine Höhenangst hat, ist der Schritt aus der Kabine und auf die Planke in schwindelnder Höhe kein leichter. Da ist auch das (rationale) Wissen, dass man nach wie vor in der Wiener Innenstadt in einem Zimmer steht, nur ein schwacher Trost.

Ähnlich erging es auch Bernhard S., wie er erzählt. Nach der Recherche im Internet ist S. auf das Ängste-Zentrum gestoßen und hat sich in der Folge für ein Erstgespräch mit Johannes Lanzinger getroffen. "Nach dem Erlernen der Atem- und Entspannungstechniken stand ich dann auf der Planke. Das war schon zäh, weil es so real wirkte".

Derzeit 15 Virtuelle Welten

Die meisten der virtuellen Szenarien werden von Software-Spezialisten in Australien und Bosnien eigens für "Phobius" entwickelt. Derzeit können die Psychologen Dingemann und Lanzinger auf 15 verschiedene Situationen zurückgreifen. Am häufigsten gebraucht werden aber die Top 3-Phobien: Höhenangst, Spinnen- und Hundeangst sowie Agoraphobie (die Angst vor weiten Plätzen oder Menschenansammlungen).

6 bis 8 Sitzungen bis zur Heilung

Für die endgültige Heilung von Phobien sind keine monatelangen Therapien nötig, tatsächlich genügen in den meisten Fällen sechs bis acht Sitzungen, die jeweils 50 Minuten dauern. Pro Sitzung fallen 90 Euro an Kosten an, das Erstgespräch ist kostenlos.

Im Falle von Bernhard S. ging es sogar schneller. Schon nach drei Sitzungen konnte er seiner Höheangst Lebwohl sagen. Vor kurzem war er mit seiner Familie auf Skiurlaub in Kärnten und fuhr auch mit dem Sessellift. "Dort ist es wirklich steil, aber durch die Therapie hatte ich schon eine ganz andere Wahrnehmung und keine Angst mehr", erzählt er. Die Simulation auf der Planke sei schlimmer gewesen als der reale Sessellift. Die Behandlung bei "Phobius" empfiehlt er auf jeden Fall aus vollstem Herzen weiter, wie S. betont.

Österreichs Pioniere in Virtual Reality

Seit rund neun Jahren forschen Anna Felnhofer von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der MedUni Wien und Oswald Kothgassner von der Abteilung für Klinische Psychologie und der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des AKH Wien auf dem Gebiet der Virtual Reality. Damit sind die beiden Experten die österreichischen Pioniere auf dem Gebiet.

"In den USA haben Forscher, wie Brenda und Mark Wiederhold große Pionierarbeit geleistet und eine eigene 'Virtual Reality-Klinik' eröffnet. Dort wird der Einsatz von computergenerierten Umgebungen zur psychologischen Behandlung sehr erfolgreich angewandt. Es gibt auch in Deutschland Forschungsgruppen und -kliniken, in Österreich sind es allerdings wenige, welche diese Methoden anwenden, oder diese in die Forschungsarbeiten integrieren", erklärt Kothgassner.

Die beiden klinischen Psychologen setzen die Computerwelten auch bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) bei Kindern und bei anderen Diagnosen wie beispielsweise bei Impulskontrollstörungen ein.

Aktuelle Studie zur Behandlung von ADHS

Seit November 2017 führen Felnhofer und Kothgassner an der MedUni Wien und am AKH Wien eine Behandlungsstudie durch, bei der – wie im Ängstezentrum Phobius – die virtuelle Realität als Behandlungsmethode eingesetzt wird, jedoch nicht in Form von Konfrontationsverfahren, sondern anhand eines modularen Trainingsprogramms, das in der Virtuellen Realität absolviert wird. "Dabei lernen Kinder mit ADHS-Diagnose bei kognitiven Spielen, sich besser auf eine Sache zu konzentrieren", erzählt Felnhofer.

In einem virtuellen Schulhof müssen die jungen Probanden etwa Karten sortieren oder Schmetterlinge einer bestimmten Farbe fangen. Ablenkungsreize wie Schulhofglocke, Gespräche im Hintergrund oder Hundegebell müssen dabei ausgeblendet werden, um die Aufgabe gut erfüllen zu können. Durch die wiederholte Übung soll sich die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder verlängern und gelernt werden, Impulse besser kontrollieren zu können. Im Rahmen der Studie werden vier verschiedene Szenarien getestet. Die Computerwelten wurden dafür von einem externen Partner, dem Wiener Software-Entwickler Black Cell entworfen.

Wie auch bei "Phobius" kommen die virtuellen Welten aus einem leistungsstarken Gaming-PC, mittels VR-Brille wird die Situation "real". "Wir sind mit unserer Untersuchung noch in der Testphase, daher ist es für gültige Aussagen zur Wirksamkeit noch zu früh", erklärt Felnhofer. Die Forscher sind aber zuversichtlich, dass die Simulation positive Auswirkungen haben wird und erhoffen sich eine hohe Umsetzbarkeit des Erlernten im Alltag.