Wien

Nach Flucht konnte sich Mariia (11) an nichts erinnern

Russischer Beschuss, verminte Autobahnen und bittere Kälte: Yevhenia und ihre Familie sind nach drei Wochen dramatischer Flucht in Wien angekommen.

Yvonne Mresch
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Liubov, Anatoliy, Mariia und Yevhenia sind nach drei Wochen dramatischer Flucht in Wien angekommen. Die Tochter muss der Erlebte erst verarbeiten.
Liubov, Anatoliy, Mariia und Yevhenia sind nach drei Wochen dramatischer Flucht in Wien angekommen. Die Tochter muss der Erlebte erst verarbeiten.
Denise Auer

"Haben sie die Bilder gesehen?" antwortet Liubov (63) auf die Frage nach der Situation in Mariupol. "Ja? Dann sage ich Ihnen: Es ist zehn Mal schrecklicher." Die Pensionistin beginnt zu weinen, ihre Tochter übernimmt und erzählt weiter. "Auf der einen Seite sind die Truppen, auf der anderen Seite die Schiffe mit Waffen. Von oben kommen die Flugzeuge. Überall ist Gefahr und man kann nichts dagegen tun", erinnert sich die 42-jährige Yevhenia. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer elfjährigen Tochter versteckte sie sich im Keller vor den Luftangriffen – ohne Wasser, Nahrung, Licht, Gas oder Internetverbindung. Oben kamen die Russen immer näher, Haus und Garten wurden beschossen. Als die Armee unweit ein neunstöckiges Hochhaus zerbombte, stand für die Familie fest: Wir müssen gehen!

"An 23 Checkpoints suchten russische Soldaten nach Tattoos"

In Müllsäcken wurden rasch wichtige Dokumente und Erinnerungen eingepackt – viel Zeit blieb nicht. Mit dem PKW ging es in Richtung Autobahn. "Der Weg war vermint, russische Truppen haben alles überwacht und wir haben viele zerschossene Autos gesehen", erzählt Yevhenia. "Wir mussten sehr langsam fahren." Die Angst begleitete die Familie auf Schritt und Tritt. Für die 90 Kilometer nach Berdjansk benötigten sie sechs Stunden. Das Problem: die Stadt wurde bereits von der russischen Armee kontrolliert. "Am Militärposten mussten wir sieben Stunden warten. Alle Männer wurden durchsucht, sie mussten sich bis auf die Unterhose ausziehen, erzählt Großvater Anatoliy. "Sie suchten nach Tattoos oder blauen Flecken. Wenn sie etwas fanden, nahmen sie die Männer mit. Niemand weiß warum und was mit ihnen passiert ist." 

"Sie durchsuchten die Autos und nahmen, was sie kriegen konnten"

Eine Woche lebte die Familie in Berdjansk – bis ein Schiff im Hafen explodierte. Aus Angst, was noch passieren könnte, machten sie sich abermals auf die Flucht. Damit waren sie nicht die einzigen: "200 Autos wollten weg. Aber es gab 23 Checkpoints", so Yevhenia. Stundenlang warteten die Geflüchteten bei einer Temperatur von -3 Grad. "Alle Autos wurden durchsucht, die Russen haben mitgenommen, was sie kriegen konnten", berichtet Anatoliy. 14 Stunden dauerte die Fahrt in das von der Ukraine kontrollierte Stadt Saporischschja. Auch dort kam die Familie nicht zur Ruhe: "Die Stadt liegt in der Nähe eines Atomkraftwerks und die Lage war sehr angespannt. Wir haben gesehen, dass siech die Armee auf etwas vorbereitet und auch schon Bomben gehört." So ging die Flucht weiter in den Westen, ohne Geld oder auch nur Kleidung zum Wechseln.

Mariia (11) konnte sich in Wien an nichts mehr erinnern

Erschöpft und nach einer Reisezeit von drei Wochen erreichte die Familie schlussendlich Ternopil, von wo aus sie einen Bus-Transfer nach Wien bekamen. Organisiert wurde dieser vom Wiener Freiwilligen Alberto Andreani - wir berichteten. Mittlerweile leben Großeltern, Mutter und Tochter in einer Wohnung in Margareten, wo sie sich von ihren Strapazen erholen. "Wir sind den Österreichern so unendlich dankbar", sagt der 63-jährige Anatoliy mit Tränen in den Augen. "Sie haben uns von Anfang an unterstützt. Die Gesellschaft und die Regierung. Auch im Haus helfen alle. Die Eigentümerin hat eine WhatsApp Gruppe eingerichtet, an die wir uns wenden können. Wir lieben Wien. Die Stadt, die Leute, einfach alles."

Bei der elfjährigen Tochter hat die Flucht indes Spuren hinterlassen. "Sie war immer sehr ruhig, hat nicht geweint, nichts gesagt. Doch dann kam der Schock", erinnert sich Mama Yevhenia. "Sie konnte sich plötzlich an nichts mehr erinnern. Alles, was sie in der Schule gelernt hat, Sprachen, Mathematik. Sie hat alles vergessen. Ihre Gehirn war wie leer gefegt." Auch körperlich litt das junge Mädchen, bekam Hautprobleme, Ausschläge und rote Flecken. "Mittlerweile haben sich die Probleme Gott sei Dank wieder gebessert. Aber wir hoffen, dass sie bald Anschluss und Freunde hier findet. Sie ist noch so alleine", so die Mutter.

"Wir hoffen, dieser Albtraum hat bald ein Ende"

In der Heimat zurückgeblieben ist der Vater des elfjährigen Mädchens. Er kümmert sich in Ternopil um Flüchtlingstransporte und ist einer der Grüne, warum Yevhenia und ihre Familie sich nach der Ukraine sehnen: "Wir wollen sobald als möglich nach Hause zurück." Bis dahin hofft man auf einen Schulplatz für Tochter Mariia ("Haben noch keine Rückmeldung erhalten") und einen Deutschkurs für die Erwachsenen. Die Großeltern wünschen sich nur eines: "Dass aus der Nacht wieder Tag wird und dieser schreckliche Albtraum endlich ein Ende hat!"