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Ex-Pfleger gesteht 100 Morde an Patienten

Der 41-jährige Niels Högel hat gestanden: Der ehemalige Pfleger gab zu, 100 wehrlose Patienten getötet zu haben.

Heute Redaktion
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Die Gedenktafel im niedersächsischen Stadt Delmenhorst ist schlicht: "Im Gedenken an all Diejenigen, die sich Niels H. anvertrauten und um ihr Leben betrogen wurden." Dabei tun sich hinter der Beileidsbekundung Abgründe auf: Der Fall Niels Högel ist ein Skandal im deutschen Pflegewesen und die größte aufgedeckte Mordserie Nachkriegsdeutschlands.

Begonnen hatte das Drama 1997, als der damals 21-jährige Niels Högel in Willhelmshaven seine Abbildung zum Krankenpfleger abschloss. Zwei Jahre später wechselte der unauffällige junge Mann ans Klinikum Oldenburg, wo er drei Jahre angestellt war.

Im August 2001 beriefen die Ärzte und Pfleger von Station 211 des Klinikums eine Sitzung ein, in der die ungewöhnliche Häufung von Reanimationen und Sterbefällen in den vorangegangenen Monaten diskutiert wurde. Auch Högel nahm Teil und ließ sich unmittelbar nach dem Gespräch drei Wochen krankschreiben.

Makelloses Arbeitszeugnis



In dieser Zeit nahmen die Sterbefälle drastisch ab, und sofort wieder zu, als Högel zum Dienst zurückkehrte. Ein Jahr später wurde der Oberarzt skeptisch und legte Högel eine Kündigung nahe. Die ungeklärten Todesfälle, etwa bei Menschen, die sich auf dem Weg der Besserung befunden hatten, nahmen ein Ende. Dennoch stellte die Klinik ihrem Pfleger ein makelloses Zeugnis aus: Er habe "umsichtig, gewissenhaft und selbstständig" gearbeitet und in "kritischen Situationen überlegt und sachlich richtig" gehandelt. Gesamtbeurteilung: Högel habe die ihm übertragenen Aufgaben "zur vollsten Zufriedenheit" erledigt.

Entsprechend schnell fand der Pfleger eine neue Anstellung. Beim 40 Kilometer entfernten Klinikum Delmenhorst war Niels Högel drei Jahre im Einsatz, bis er 2005 von einem Kollegen ertappt wurde, wie er einem Patienten das Antiarrhythmikum Gilurytmal verabreichte. Das Medikament wird zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen eingesetzt, wobei es bei gesunden Patienten genau solche sowie drastischen Blutdruckabfall auslösen kann.

Der Vater als Vorbild



Polizeiermittlungen ergaben, dass sich die Zahl der Todesfälle am Klinikum Delmenhorst im Zeitraum der Beschäftigung von Högel verdoppelt hatte; 2005 standen 73 Prozent der Todesfälle in Zusammenhang mit seiner Dienstzeit. Ende 2016 gingen die Behörden von 37 Fällen aus, in denen Högel den Tod eines Patienten verschuldet hatte. Zwei Jahre später wurde der Pfleger zu diesmal zu siebeneinhalb Jahren Haft und einem lebenslangen Berufsverbot verurteilt.

Er habe aus Langeweile gehandelt, begründete der als "schlank und gut aussehend" beschriebene Mann seine Taten. Auch habe er sich als Held profilieren wollen, indem er Menschen im kritischen Zustand reanimiert habe. Vorbild sei sein Vater gewesen, ein beliebter Krankenpfleger. 2015 wurde das Urteil unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld revidiert und auf eine lebenslange Haft ausgedehnt – wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs sowie gefährlicher Körperverletzung in einem weiteren Fall.

Die Spitze des Eisbergs



Es folgten zahllose Ermittlungen gegen Staatsanwälte, die die Ermittlungen verschleppt hätten, sowie gegen Pfleger und Ärzte, die das Treiben Högels nicht verhindert hätten. Die beiden betroffenen Krankenhäuser führten 2015 als erste Kliniken in Deutschland die "qualifizierte Leichenschau" durch einen zusätzlichen Rechtsmediziner ein. Das Vier-Augen-Prinzip soll verhindern, dass unnatürliche Todesursachen infolge krimineller Handlungen übersehen würden.

Doch auch die Ermittlungen gegen Niels Högel ruhten nicht. Der Leiter der Sonderkommission "Kardio" sprach davon, dass "die belegbaren Tötungen in Oldenburg und Delmenhorst nur die Spitze des Eisbergs" darstellten.

Am Dienstag eröffnete vor dem Landgericht im niedersächsischen Oldenburg ein neuer Prozess um die Mordserie, die als grösste in der Geschichte der Bundesrepublik gehandelt wird. Verhandelt werden 100 weitere Fälle, die von über 120 Klägern vertreten werden. Im Vorfeld waren 137 Leichen exhumiert und auf auffällige Medikamentenspuren hin untersucht worden. Auf die Frage des Gerichts, ob die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zuträfen, antwortete Högel am Dienstag mit "ja".

Suche nach Wahrheit



Zu Beginn des Prozesses bat der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann um eine Schweigeminute für die Toten. Er wandte sich zudem direkt an die Angehörigen der Opfer. Es müsse ein "furchtbares Gefühl" sein, Jahre nach dem Tod eines geliebten Menschen erfahren zu müssen, dass womöglich alles anders gewesen sei, sagte Bührmann. Er verspreche, dass das Gericht nach der Wahrheit suchen werde und die Taten lückenlos aufklären wolle.

Ein Sprecher der Angehörigen zeigte sich zufrieden damit, dass der Prozess nun begann, kritisierte aber auch die bisherigen Ermittlungen. "Es ist wichtig, dass es jetzt endlich zur Anklage und zum Prozess kommt", sagte Christian Marbach, Enkel eines Verstorbenen. Die bisherige Arbeit der Ermittler bezeichnete er als "desolat". Es habe Verfahrensverzögerungen von mindestens 13 Jahren gegeben. (Red)