Österreich

"Es käme zur Abtreibung gesunder Kinder"

Heute Redaktion
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Top-Mediziner Peter Husslein im Gespräch mit "Heute.at" über die "frauenfeindliche" Forderung einer Beschränkung von Spätabtreibungen.

Wie weit ist ein Fötus entwickelt, wenn er in der 23. Woche abgetrieben wird?

Professor Peter Husslein: Der Fötus ist zu diesem Zeitpunkt sehr weit entwickelt. Treibt eine Schwangere nach dem dritten Monat ab, erhält sie Medikamente, die eine Fehlgeburt auslösen. Ab der 22. bis 23. Woche ist ein Fötus theoretisch schon lebensfähig. Nach diesem Zeitpunkt wird er vor Auslösen der Wehentätigkeit meist durch Herzstich, den "Fetozid", getötet.

Unter welchen Voraussetzungen ist eine Abtreibung in diesem Stadium der Schwangerschaft erlaubt?

Ein Schwangerschaftsabbruch ist nie erlaubt, auch in dieser Situation nicht. Er ist unter der Bedingung straffrei, dass eine ernste Gefahr für eine schwere Schädigung besteht. Der Gesetzgeber bringt dadurch den vorliegenden Konflikt zwischen dem Lebensrecht des Kindes und der Autonomie der Schwangeren sehr gut zum Ausdruck.

In Österreich gehen Ärzte aber darüber hinaus entgegen dem Gesetzestext davon aus, dass das Lebensrecht des Kindes mit zunehmendem Schwangerschaftsalter zunimmt. Wenn das Kind bereits lebensfähig sein könnte, muss die Schädigung ganz besonders schwer sein, damit ein Abbruch durchgeführt werden kann.

Die Bürgerinitiative "Fairändern" will solche Spätabtreibungen verbieten – respektive die "eugenische Indikation". Wie stehen Sie dazu?

Es gibt keine "eugenische Indikation"! Unter Eugenik versteht man Maßnahmen, die zum Ziel haben, die Genetik innerhalb der Bevölkerung zu verändern. Der Gesetzgeber hat keine Eugenik vorgesehen und sie wird in der Praxis auch nicht betrieben. Es geht darum, der Schwangeren eine Wahl zu geben.

Spätabbrüche in Österreich

Eine Leitlinie der österreichischen Gesellschaft für Perinatologie schränkt den breiten gesetzlichen Rahmen zum Schwangerschaftsabbruch nach dem dritten Monat weiter ein. Der Eingriff wird nur auf Wunsch der Frau nach einer Bedenkzeit und Beratung durch verschiedener Ärzte durchgeführt. Das erfolgt unter genauester Dokumentation in wenigen damit vertrauten Zentren.

In Österreich wurden im Jahr 2018 rund 380 späte Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt, etwa 70 davon mittels Fetozid.

Wenn sie mit einer bestimmten Situation nicht umgehen kann, wird ihr die Möglichkeit geboten, die Schwangerschaft zu beenden. Eine Änderung würde einen schweren Rückschritt bedeuten, wäre außerordentlich frauenfeindlich und würde die Anzahl der Abtreibungen wahrscheinlich deutlich erhöhen.

Zur Person

Professor Peter Husslein (66) ist seit 1996 Vorstand der Universitätsklinik für Frauenheilkunde am Wiener AKH. Er ist Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie der Österreichischen Gesellschaft für Prä- und Perinatale Medizin. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen auf Wehenforschung, Frühgeburt und Humangenetik.

(Foto: picturedesk.com)

"Frauen würden ins Ausland gehen, um abzutreiben."

Was wären die Folgen, sollten Spätabbrüche in Österreich verboten werden?

Frauen würden ins Ausland gehen, um abzutreiben. Zumindest, wenn sie es sich leisten können. Einen solchen Abbruchtourismus gab es bereits vor Einführung der Fristenlösung. Frauen, die gezwungen werden, ein Kind mit einer schweren Fehlbildung auszutragen, werden sehr oft von ihren Partnern und Familienmitgliedern verlassen. Dazu kommt, dass sie weitgehend vom Staat im Stich gelassen werden. Und: Es käme zur Abtreibung gesunder Kinder.

Warum das?

Wenn nach dem Ersttrimesterscreening auch nur ein "leichter" Verdacht auf eine Fehlbildung besteht, wäre keine Zeit vorhanden, um die Situation länger zu beobachten. Im Zweifel würden sich viele Frauen zur Abtreibung entschließen. Das wäre fatal, denn in vier von fünf Fällen bestätigt sich ein solcher Verdacht nicht und das Kind ist gesund.

"Die wirkliche Diskriminierung ist die mangelnde Unterstützung von Menschen mit Behinderung und Familien, die sie pflegen und unterstützen."

Die Initiative sagt, es gehe darum, zu verhindern, dass Menschen mit Behinderung diskriminiert werden. Können Sie dieses Argument nachvollziehen?

Die Möglichkeit für einen Abbruch unter der aktuellen Regelung führt in keiner Weise zu einer Diskriminierung von lebenden Menschen mit Behinderung.

Bei Familien, die ein Kind mit Behinderung haben, wird in einer nachfolgenden Schwangerschaft sehr oft aktiv Pränataldiagnostik betrieben mit dem Ziel, die Schwangerschaft bei Vorliegen einer weiteren Behinderung zu beenden. Das hat aber nicht den geringsten Einfluss auf die Zuneigung und Unterstützung des vorhandenen Kindes.

Die wirkliche Diskriminierung ist die mangelnde Unterstützung von Menschen mit Behinderung und Familien, die sie pflegen und unterstützen. Eine Verbesserung dieser Situation wäre vernünftiger als eine Änderung der Rechtslage.

"Ja, Kinder mit Trisomie 21 werden häufig abgetrieben."

Befürworter der Initiative argumentieren, dass Kinder mit Trisomie 21, früher Down-Syndrom genannt, oft von Abbrüchen betroffen sind. Ist das in der Praxis wirklich so?

Ja, Kinder mit Trisomie 21 werden häufig abgetrieben. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung sieht sich nicht in der Lage, die besonderen Forderungen eines Kindes mit dieser Krankheit zu erfüllen. Unter anderem, weil die Unterstützung in der Familie durch Sozialeinrichtungen und den Staat zu wünschen lässt.

Ein betroffenes Paar schilderte seine Erfahrung im Gespräch mit "Heute.at". In dem Fall wurde in der 23. Woche ein Fetozid durchgeführt, danach hat die Mutter das tote Kind nach 17-stündigen Wehen geboren. Wie belastend ist eine solche Erfahrung für die Betroffenen?

So ein Ablauf ist außerordentlich belastend und erfordert eine intensive Zuwendung durch die betroffenen Ärzte, Psychologinnen, aber vor allem durch die Familie und Verwandtschaft.

Wie erleben Sie betroffene Eltern?

Die Entscheidung für einen Abbruch ist für betroffene Paare sehr schwierig. Schließlich hat man sich zumeist auf die Schwangerschaft gefreut. Die meisten kämpfen sehr mit der Entscheidung. Manche können sich einfach nicht durchringen und wollen dann – auch bei hochgradigem Verdacht auf eine schwere Fehlbildung – dass "alles für das Kind getan wird". Das unterstützen wir natürlich vollinhaltlich. Andere ringen sich durch und verlangen den Abbruch.

"Das Gespräch über die Möglichkeit eines Abbruchs findet überhaupt nur statt, wenn die Frau den Wunsch oder die Forderung dazu äußert."

Wer entscheidet, in welchen Fällen Spätabbrüche durchgeführt werden?

Zunächst einmal die Frau. Das Gespräch über die Möglichkeit eines Abbruchs findet überhaupt nur statt, wenn die Frau den Wunsch oder die Forderung dazu äußert. Dann entscheiden die Ärzte nach den Vorgaben der jeweiligen Zentren.

Bei uns am AKH ist es eine ausführliche Diskussion mit allen anwesenden Ärzten der Abteilung für Geburtshilfe. Dabei werden auch diverse Begutachtungen eingeholt – eine genetische Untersuchung, bildgebende Verfahren sowie die Einschätzung von Kinderärzten und anderen Spezialisten.

Wie ist das Verhältnis zwischen bewilligten und abgelehnten Abbrüchen?

Das hängt vom jeweiligen Zentrum ab. Am AKH findet bereits im Vorfeld eine Selektion statt. Aus Erfahrung wissen wir, dass ein Abbruch bei bestimmten Konstellationen nicht in Frage kommt. In den Fällen, die in der großen Besprechung diskutiert werden, wird bei rund drei Vierteln der Abbruch durchgeführt.

"Ärzte wollen keine Spätabtreibungen durchführen."

Gegner von Spätabbrüchen sprechen immer wieder davon, dass Ärzte Frauen zu Abbrüchen drängen würden. Sind das Einzelfälle oder ist dieses Phänomen wirklich so häufig, wie es dargestellt wird?

Ärzte wollen keine Spätabtreibungen durchführen. Sie sind aber auch verpflichtet, auf Fragen der Frau wahrheitsgemäße Antworten zu geben. Über das Ausmaß der wahrscheinlichen Behinderung, der daraus resultierenden Lebensform, gegebenenfalls der Pflegeabhängigkeit. Aber auch über die vorhandene oder auch fehlende Unterstützung vom Sozialsystem. Es steht jeder Frau frei – und wir unterstützen das auch – sich Informationen auch an anderer Stelle zu holen.

Welche Rolle spielt der gesellschaftliche Druck?

Der ist unter Umständen groß, das hängt vom sozialen Umfeld der Betroffenen ab und zwar in beide Richtungen. Hier spielt hinein, ob es sich etwa um ein katholisches Umfeld handelt, wie die Sozialsituation der Familie aussieht und vieles mehr.

"Es gibt in Österreich keine Abtreibung auf Verdacht."

Kommt es auch zu "Abtreibungen auf Verdacht"? Also dass gesunde Kinder abgetrieben werden, weil eine Behinderung nicht zuverlässig festgestellt werden kann?

Es gibt in Österreich keine Abtreibung auf Verdacht, sondern nur "wenn eine ernste Gefahr für eine schwere Schädigung vorliegt". Das kann man mit der heutigen Methode sehr gut abschätzen. Man kann gegebenenfalls den Einzelfall nicht mit 100-prozentiger Präzision voraussagen.

Aber durch den verantwortungsbewussten Umgang mit diesem schwierigen Problem kann man mit gutem Gewissen sagen, dass in Österreich auf "reinen Verdacht" kein Fötus abgetrieben wird. Kein gesundes Kind ist von einer Spätabtreibung betroffen.

Es gab bereits Klagen gegen Ärzte, die Fehlbildungen bei ungeborenen Kindern nicht erkannten. Ein Kind mit Behinderung als "Schadensfall", sagen Kritiker. Wie schätzen Sie die Urteile in diesen Fällen ein?

Diese Urteile – so hart sie im Einzelfall sein mögen – sind auf der Basis der österreichischen Rechtsordnung nachvollziehbar und konsequent. Der Oberste Gerichtshof hat klar festgelegt, dass Pränataldiagnostik der Frau die Möglichkeit bieten soll, sich für oder gegen das Kind zu entscheiden.

Bei einem Behandlungsfehler hat der Arzt der Frau die Möglichkeit genommen, sich gegen das Kind zu entscheiden. Daher ist es nur logisch, ihm die gesamten Lebenshaltungskosten dieses Kindes aufzubürden. Diese Urteile haben zu einer wesentlichen Verbesserung der Qualität der Pränataldiagnostik geführt. Haftung ist nun einmal ein sehr wirksames Mittel zur Qualitätssicherung.

"Ich unterstelle den meisten Unterstützern dieser Petition, dass sie sich nicht wirklich mit der Problematik auseinandergesetzt haben."

Zahlreiche Prominente, darunter Verkehrsminister Norbert Hofer und Kardinal Christoph Schönborn, unterstützen das Anliegen von "Fairändern". Welchen Einfluss hat dies auf die Art und Weise, wie die Debatte geführt wird?

Ich unterstelle den meisten Unterstützern dieser Petition, dass sie sich nicht wirklich mit der Problematik auseinandergesetzt haben. Sie sind sich der Konsequenzen der Streichung der "embryopathischen Indikation" in keiner Weise im Klaren, von der verständlichen, aber realitätsfremden Position der katholischen Kirche abgesehen. Die Unterstützer sollten ernsthaft darüber nachdenken, ob sie wirklich wollen, was dann passieren wird.

Einige Unterstützer von "Fairändern" argumentieren, man wolle nur die Voraussetzung einer schweren Schädigung des Kindes aus dem Gesetz streichen.

Das ist meiner Ansicht nach ein Euphemismus und, wenn man es härter formulieren will, ein Etikettenschwindel. Den Wunsch der Frau für einen Abbruch und den ernsten Verdacht auf eine schwere Schädigung, die "embryopathische Indikation", kann man relativ leicht feststellen.

Würde man diese streichen und Abbrüche unter der "medizinischen Indikation" durchführen, stünde die betroffene Frau unter enormen Druck. Sie müsste nämlich, um einen Abbruch zu erreichen, argumentieren, warum sie die Situation nicht bewältigen kann, ohne dass irgendwelche anderen Rahmenbedingungen definiert wären. Und das nur, weil man aus ideologischen Gründen den entsprechenden Satz aus dem Gesetz entfernt hätte.

"Es ist bedenklich, wenn in einem Regierungsprogramm der vollkommen falsche Begriff 'eugenische Indikation' vorkommt."

Im Regierungsprogramm führen ÖVP und FPÖ auf Seite 120 an, dass sie die "Organisation einer parlamentarischen Enquete zum Thema der eugenischen Indikation und zur Verhinderung von Spätabtreibungen" planen.

Es ist bedenklich, wenn in einem Regierungsprogramm der vollkommen falsche Begriff "eugenische Indikation" vorkommt. Es geht hier nicht um Eugenik, sondern um Umsetzen der Autonomie der Schwangeren. Die einzige Möglichkeit, Spätabbrüche zu verhindern ist, den Frauen durch Verbesserung der sozialen Unterstützung eine bessere Perspektive bei Verzicht auf einen Spätabbruch zu bieten.