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Der Fall von Raqqa – und wie es jetzt weitergeht

Sie war die erste Stadt, die dem Islamischen Staat in die Hände fiel: sechs Punkte zu Raqqa und zur Frage, wie es im Krieg gegen den IS weitergeht.

Heute Redaktion
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Es war ein opferreicher, vier Monate langer Kampf. Doch jetzt ist die radikalislamische Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in ihrer einstigen syrischen Hochburg geschlagen.

"Hauptstadt" des Kalifats

Die syrische Stadt mit ihren 20.000 Einwohnern liegt am Ufer des Euphrats. Sie war die erste Stadt, die dem IS auf seinem Eroberungszug in Syrien und Irak in die Hände fiel. Dabei waren Rebellen der Freien Syrischen Armee und Kämpfer der al-Qaida mit den sunnitischen Dschihadisten des Islamischen Staates 2013 in ar-Raqqa einmarschiert. Die IS-Kämpfer vertrieben diese im Januar 2014 aus der Stadt.

ar-Raqqa galt von da an als "Hauptstadt" des islamischen "Kalifats", das IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi später im Sommer ausrufen sollte. Mit der Transformation der Stadt wurde ihre schiitische Moschee dem Erdboden gleichgemacht, christliche Kirchen in islamische Zentren umfunktioniert, religiöse Minderheiten vertrieben oder zur Abgabe einer Sondersteuer gezwungen. Diejenigen, die blieben, lebten in relativer Sicherheit, wie die Nachrichtenagentur AP schreibt. Der Großteil der Kämpfe in Syrien fand lange Zeit im Westen des Landes statt.

Zentrum für Terrorplanung

IS-Chef Baghdadi forderte Ärzte und Ingenieure aus dem ganzen Land auf, nach ar-Raqqa zu kommen, um den Traum vom "Kalifat" und einem globalen Dschihad umzusetzen. Aus aller Welt strömten auch ausländische Anhänger und IS-Kämpfer dorthin. Schulen wurden geschlossen, Kinder in Moscheen indoktriniert und in militärischen Camps an Waffen ausgebildet.

Ausländische Journalisten und NGO-Mitarbeiter, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, wurden vor laufenden Kameras geköpft. Auf dem sogenannten "Kreisverkehr der Hölle" im Stadtzentrum, einem berüchtigten Hinrichtungsplatz der IS-Miliz, spießten die Dschihadisten die Köpfe ihre Opfer auf und kreuzigten Leichen und stellten sie teilweise tagelang zur Schau.

Von ar-Raqqa aus wurden offenbar auch die größten IS-Anschläge auf Europa geplant: Paris 2015 mit 130 Toten, Brüssel 2016 mit 32 Toten.

Wendepunkte

Diesen Juni lancierten kurdische und arabische Syrer im Verbund mit den Syrian Democratic Forces (SDF) den Sturm auf Raqqa. Unterstützt von US-Luftschlägen gelang es ihnen, die Stadt in vier Monaten zurückzuerobern.

Lange gab es nur wenig Fortschritte, so dass die Luftschläge intensiviert wurden und auch die syrische Luftwaffe mit russischer Unterstützung Angriffe flog. Im August warf die Anti-IS-Koalition über der Stadt mehr Bomben ab als im gleichen Zeitraum über ganz Afghanistan. Die Verluste am Boden, auch unter Zivilisten, die als menschliche Schutzschilder missbraucht wurden, waren entsprechend hoch.

Ein Wendepunkt in der Rückeroberung Raqqas, so die "New York Times", sei auch der Deal gewesen, den Stammesälteste mit 275 IS-Kämpfern letzten Sonntag schlossen: Sie und ihre Familien ergaben sich und wurden in Bussen aus der Stadt geschafft.

Während Vertreter der SDF erklärten, dass der Deal keine ausländischen Kämpfer umfasse, diese sich zu einem Großteil noch in ar-Raqqa verschanzt hielten, erklärte ein Vertreter des neu gegründeten Stadtrats: "Ausländische Kämpfer haben die Wahl: aufgeben oder sterben in der Stadt." Er vermutet, dass diese ausländischen Kämpfer nach Deir al-Sor gefahren werden, einem Gebiet im Osten Syriens, wo der IS noch immer Territorium hält.

Der Kampf um die Stadt ist noch nicht ausgestanden: Zwischen 50 und 70 IS-Kämpfer weigern sich, aufzugeben. Darunter soll auch der Drahtzieher des Anschlages in Paris 2015 sein.

Verlustreiche Rückeroberung

Die Kämpfe um ar-Raqqa haben nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte 3250 Menschen das Leben gekostet – darunter mehr als ein Drittel Zivilisten. Zudem werden Hunderte Menschen vermisst. Für einen Teil der zivilen Opfer dürften dabei die Luftangriffe der US-geführten Internationalen Koalition verantwortlich gewesen sein.

Die Stadt selbst liegt in Schutt und Asche. Im September hieß es, dass nur noch ein Krankenhaus stehe, das aber keine medizinische Versorgung gewährleisten könne: Wunden würden mit Salz und Wasser behandelt.

Anhaltende Spannungen

90 Prozent von ar-Raqqa gelten als befreit. Doch es gibt bereits jetzt Sorgen um einen nächsten Konflikt. Die multiethnische, aber von Kurden dominierten SDF haben zwar eine städtische Behörde ins Leben gerufen, die den Wiederaufbau organisieren soll. Auch eine städtische Polizei wurde eingerichtet – wobei die meisten der von den SDF ausgebildeten Kadetten laut AP Kurdisch sprechen, aber kein Arabisch. Diese Dominanz in Behörden und der Polizei könnte in ar-Raqqa mit seiner sunnitisch-arabischen Mehrheit bald zum Problem werden.

Allgemein sehen die Kurden in Syrien, auch vor dem Hintergrund des Kurden-Referendums im Nordirak beflügelt, den Zeitpunkt gekommen, ihren Anspruch auf ein autonomes Kurdengebiet geltend zu machen.

Wie es weitergeht

Der militärische Kampf gegen den IS kommt langsam zu einem Ende: In den vergangenen Monaten verlor die Terrormiliz die wichtigsten Teile ihres Herrschaftsgebietes in Syrien und im Irak und wurde an fast allen Fronten zurückgedrängt.

Derzeit haben sich die Kämpfe in die östliche Deir-al-Sor-Provinz mit ihren Öl- und Gasfeldern verlagert. Ein Übergang in den Irak erhöht die strategische Bedeutung dieser Provinz zusätzlich. Im Euphrat-Tal hält der IS noch immer rund 130 Kilometer. Von einer endlosen Wüste umgeben, können die Terroristen von hier einfach fliehen und untertauchen, denn es wird kaum möglich sein, das riesige Rückzugsgebiet komplett abzuriegeln.

Derzeit gewinnen die vom Iran und von Russland unterstützten syrischen Regierungstruppen am südöstlichen Euphrat-Ufer an Boden, während sich die von den USA unterstützten SDF vom Nordwesten her nähern. Die Anspannung ist groß. Nicht nur, weil beide Seiten sich beschuldigen, die jeweils andere unter Beschuss zu nehmen, sondern auch, weil die USA verhindern möchten, dass letztlich der Iran an Einfluss gewinnt und sich im Kampf gegen den IS einen Korridor zwischen dem Irak und Syrien bis nahe ans Mittelmeer sichern könnte.

Die große Frage ist, was nach dem Sieg über den IS passiert – wenn man denn von einem Sieg sprechen will: Der IS dürfte weiter aus dem Untergrund heraus agieren. Es zeichnet sich schon jetzt ein Wettbewerb um die vom IS zurückeroberten Gebiete ab: Im Osten Syriens konkurrieren die von den USA gestützten Kurden mit den syrischen Regierungstruppen, die den Iran und Russland im Rücken haben. Im Irak ist die Koalition der Kurden mit der irakischen Zentralregierung und den iranischen Milizen seit dem abgehaltenen Unabhängigkeitsreferendum zerbrochen. (red)