Wien

"Schämte mich fürs Stottern – heute halte ich Vorträge"

Martin J. (32) leidet an einer Sprachstörung. Doch davon lässt sich der Wiener nicht unterkriegen, ist heute sogar im Kommunikationsbereich tätig.

Yvonne Mresch
Telefongespräche, Meetings, Konferenzen: Was für Martin J. früher undenkbar schien, ist heute kein Problem mehr.
Telefongespräche, Meetings, Konferenzen: Was für Martin J. früher undenkbar schien, ist heute kein Problem mehr.
Sabine Hertel

Im Alter von fünf Jahren bemerkten die Eltern von Martin J., dass ihr Kind nicht wie die anderen sprach. Er brauchte länger, um seine Wünsche in Worte zu fassen. "Es kam ganz plötzlich und die Ursache ist noch immer unklar. Weder ein Trauma, noch ein Unfall waren passiert", erinnert sich der heute 32-jährige. Martin J. ist Stotternder, leidet an der bekannten Störung des Sprechablaufs. Stotternde neigen zur Wiederholung von Satzteilen, Worten und Silben.

"In der Pubertät versucht man alles, um nicht aufzufallen"

 Für den Wiener folgte ein Logopäden-Besuch nach dem anderen – ohne Erfolg. "Wenn ein Kind stottert, hat man in etwa bis ins Teenager-Alter Zeit, es in den Griff zu bekommen. Bleibt es bis dahin, ist es unheilbar – aber therapierbar", erklärt er. Martin J. hatte kein Glück – seine Beeinträchtigung wurde er nicht mehr los. Nicht zuletzt in der Pubertät eine Herausforderung: "Ich entwickelte etliche Tricks, um das Problem zu umgehen. Man ersetzt ein Wort mit einem anderen, formuliert um, ändert spontan Sätze. Alles nur, um nicht aufzufallen."

Das ständige Versteck-Spiel führte bei dem heranwachsendem Jungen zu Dauerstress: "Es war eine Belastung. Das Kopfkino läuft ununterbrochen. Ständig denkt man, es könnte eine unerwartete Frage kommen." Das Bemühen, nicht aufzufallen, fiel Martin J. schwerer als das Verarbeiten von Witzen und Hänseleien. "Die hielten sich in Grenzen. Aber natürlich können Kinder gemein sein", erzählt er.

Übergewicht, Isolation: "Erkannte mich selbst nicht mehr"

Nach Schulabschluss und Bundesheer begann der Ottakringer seinen ersten Job als Grafiker – damit begann seine schwerste Zeit. "Ich musste plötzlich Meetings vor großem Publikum halten, kam in sehr fordernde Situationen und dadurch in einen Teufelskreis", erinnert er sich. Je frustrierter er wurde, je mehr Vorwürfe er sich machte und sich schämte, desto eher begann er, Gespräche zu meiden. Das führte zur zunehmenden Isolation. "Ich hatte kaum mehr soziale Kontakte, einen ungesunden Lebensstil, Übergewicht. Psychisch, sozial und gesundheitlich ging es mir schlecht. Ich habe mich damals selbst nicht wiedererkannt."

Logopädin als Partnerin: "Reiner Zufall"

Die Rettung für den 32-jährigen war eine stationäre Therapie in Deutschland, die Bonner Stottertherapie: "Dort habe ich gelernt, offen und mutig mit dem Stottern umzugehen. Ich bin nicht flüssig beim Reden, das ist nichts Dramatisches. Damit kann ich ein normales Leben führen." Durch das neu gewonnene Selbstbewusstsein sank auch die Scham und das Stottern wiederum wurde besser. "In der Therapie habe ich den Satz gelernt 'Das Schlimmste am Stottern ist die Angst davor' und das stimmt", sagt Martin J. heute, stolz auf seinen persönlichen Erfolg.

Nach einem langen Lernprozess steht der Wiener heute mit beiden Beinen fest im Leben und möchte anderen damit ein Vorbild sein. In seinem Beruf im Marketing hält er Meetings und Vorträge vor bis zu 20 Personen. Etwas, das er sich noch vor wenigen Jahren nie zugetraut hätte. Seine Freizeit verbringt Martin J. mit Familien und Freunden, die immer hinter ihm standen – und seiner Partnerin, einer Logopädin: "Dass wir uns kennengelernt haben, war reiner Zufall", lacht er. Mit seiner neu gewonnenen Lebensfreude möchte er nun andere Betroffene anstecken und sagt: "Das Leben hält so viele Möglichkeiten bereit. Habt keine Angst davor!"

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