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Sheldon, Greta und ich: So lebe ich mit Asperger

Heute Redaktion
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Serienheld Sheldon Cooper und Klimastreikerin Greta Thunberg sollen Autismus "chic" gemacht haben. Unsere Autorin schreibt, wie es wirklich ist, Asperger zu haben.

Als Baby habe ich nicht geweint. Dafür hatte ich später umso größere emotionale Ausbrüche, wenn etwas gegen mein Gerechtigkeitsempfinden verstieß. Oder wenn ich nicht mehr wusste, wohin mit all den Reizen, die auf mich einprasselten.

Als Kind war es meine Lieblingsbeschäftigung, Dinge zu sammeln und zu ordnen. Die meisten Erwachsenen fanden mich sehr höflich und zurückhaltend. Manchmal vielleicht auch merkwürdig: Wenn ich mich langweilte oder reizüberflutet war, verließ ich das Klassenzimmer einfach.

Heute verschwinde ich manchmal von Treffen und Feierlichkeiten, ohne mich zu verabschieden. Ich sage dann nachher, ich hätte mich körperlich nicht wohlgefühlt. Was irgendwie auch stimmt – ich kann das Gefühl und seinen Ursprung nicht akkurater beschreiben. Manchmal merke ich es nicht, wenn sich der Raum in der Arbeit leert und eine Sitzung ohne mich beginnt.

Ich bin 31 Jahre alt, vor kurzem wurde ich mit Autismus, ADHS und OCD diagnostiziert. Dass ich hypersensitiv bin, wusste ich davor schon. Ich begab mich in Therapie, nachdem ich zum ersten Mal nach Jahren der Freiberuflichkeit eine Vollzeitstelle angetreten hatte. Ich wusste: sonst wird das nichts.

Popstars des Autismus

Im Moment gilt Autismus ja als "chic". Das habe ich kürzlich zumindest irgendwo gelesen. Eine Zeitung stellte diese These auf, weil die Klimastreikerin Greta Thunberg offen über ihr Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus, spricht. Auch in der Populärkultur ist Autismus plötzlich ein großes Thema: Progatonisten wie Sheldon Cooper von "Big Bang Theory" sei Dank.

Steckt auch eine kämpferische Klima-Ikone in mir? Oder eine liebenswert-verschrobene Physikerin? Schön wärs – wobei ich mich in gewissen Punkten schon wiedererkenne in den beiden.

Ich spreche eigentlich fließend sechs Sprachen – kann aber Smalltalk nur mit großer Anstrengung führen, bei philosophischen Argumentationsrunden aber ohne Anstrengung mitreden.

Bei meinen Seminar-Arbeiten bekam ich von Professoren immer die Beurteilung: "hervorragende Argumente, aber keine Struktur". Ich besuchte aus Interesse 40 Wochenstunden Lehrveranstaltungen und schloss 10 Wochenstunden davon ab. Jede Prüfung bedeutete für mich ein Kampf gegen Reizüberflutung. Manchmal konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren und musste abbrechen.

Hände-Wasch-Zwang und Schlafstörungen

Wird meine normale Routine gestört, bleibt das oft nicht folgenlos. Aus diesem Grund bin ich oft zu spät – und weil ich in meiner Zerstreuung ein Chaos anrichte, das ich wegen meines Ordnungszwangs bereinigen muss. Ich habe schon zahllose Reisen im letzten Moment abgesagt, weil ich auf einmal nicht außer Haus gehen konnte.

Wie 80 Prozent aller Autisten habe auch ich Schlafstörungen. Bei meiner Schlafroutine gibt es nur eine bestimmte Position, in der ich einschlafen kann. Ich hatte eine Reihe von Zwängen, jahrelang einen Hände-Wasch-Zwang vor dem Schlafengehen, später einen WC-Geh-Zwang auch vor dem Schlafengehen. Mit anderen ein Zimmer zu teilen, das stellt für mich bis heute ein Problem dar.

"Sheldon in einer Penny"

Wie ihr euch vorstellen könnt, datet es sich unter diesen Umständen auch nicht gerade leicht. Ein Ex-Freund hat mich, in Anlehnung an die "Big Bang Theory"-Protagonisten, einmal als "Sheldon in einer Penny" bezeichnet. Das war auch ein Grund für das Scheitern vieler Beziehungen: Die meisten wollten die Penny-Seiten, nicht die von Sheldon.

Ich brauche bei allem, was ich tue, klare Strukturen und Vorgaben. Es fällt mir schwer, große Sachen zu Ende führen. Das zieht sich bis in die trivialsten Vorgänge des Alltags hinein: Ich habe Strukturen beim Essen, von denen einem schlecht wird. Ich esse fast immer das Gleiche.

Nur Reize im Sinn

Wenn man in einer Stadt lebt, lebt man auch in konstanter Reizüberflutung. Die Fahrt zur und von der Arbeit ist für mich das Anstrengendste des Tages. Die U-Bahn, die grellen Lichter, die Geräuschkulissen, Sprachen, die man mehr oder weniger mag.

Ich helfe mir dann, indem ich mich mit meinem iPod zur Musik bewege. In der Arbeit oder Freizeit bewege ich meist in irgendeiner Form meine Beine, spiele mit meinem Haar oder mit irgendetwas, das ich in der Hand habe.

Vor allem Stimmen beeinflussen meine Stimmung maßgeblich. Wenn ich an einer Transkription arbeite, wo ich irgendetwas an der Stimme des Sprechenden abstoßend empfinde, werde ich aggressiv und muss oft pausieren.

Plötzlich stumm

Ich kann keine Konversationen am Telefon führen. In einem Büro-Job, wo ich neben dem Texten auch fürs Backoffice zuständig gewesen wäre, hätte ich das ein halbes Jahr lang mehr oder weniger täglich tun sollen. Ich schaffte es, mich so gut es ging, davor zu drücken. Wenn man das Essen nicht online bestellen kann, oder eine Reservierung zu tätigen ist, bitte ich jemand anderen, das für mich zu tun.

Wenn ich in Gruppen bin, bin ich overwhelmed, sodass ich oft nicht sprechen und denken kann. In One-on-One-Konverstionen blühe ich hingegen auf, wenn ich über Gemeinsamkeiten oder Leidenschaften sprechen kann. Meine Interessen waren schon immer etwas andere als die der meisten Mädchen. Pokemon zum Beispiel oder der Weltraum.

Superkraft und Kryptonit

Diese Leidenschaft ist es dann vielleicht auch, die mich mit Sheldon und Greta verbindet. Wenn ich für etwas Begeisterung empfinde, überschlage ich mich fast mit Worten und kann mich nur schwer wieder vom Thema losreißen. Die Vorlesungen von einem Professor an der Uni, bei dem mich Intellekt und Humor so angesprochen haben, besuche ich jedes Semester wieder – seit über 10 Jahren.

Mit 10 Jahren habe ich dem Pfarrer unseres kleinen Dorfs vor einer versammelten Kindergruppe erklärt, warum seine Gottes-Theorie nicht stimmen kann. In den Momenten, wo mich die Leidenschaft überkommt, bin ich dann plötzlich doch nicht mehr so zurückhaltend. Wenn Greta Thunberg also den Mächtigen der Welt die Meinung geigt, fühle ich mich seltsam mit ihr verbunden.

Mein Asperger, gepaart mit meinem ADHS, ist für mich gleichzeitig Superkraft und Kryptonit. Es hilft mir, über mich hinauszuwachsen, und wirft mich gleichzeitig komplett aus der Bahn.

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