Am 22. Oktober erscheint Alexej Nawalnys Autobiografie "Patriot" auf Deutsch. Darin enthalten sind auch die Tagebucheinträge des verstorbenen russischen Oppositionellen während seiner Zeit im Gefängnis. Einer der Ausschnitte, die dem "Spiegel" vorliegen, zeigt Nawalnys Akzeptanz seiner Strafe und seines möglichen Todes.
"Hör zu, ich möchte nicht dramatisch klingen, aber ich glaube, es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich hier nicht mehr rauskomme", sagte Nawalny zu seiner Frau Julia bei ihrem ersten längeren Gefängnisbesuch, wie er in seinem Tagebuch schrieb. "Selbst wenn alles zusammenzubrechen beginnt, werden sie mich umlegen, beim ersten Zeichen, dass das Regime kollabiert. Sie werden mich vergiften." Sie meinte nur nickend: "Ich weiß, das habe ich mir auch gedacht."
Am 22. März 2022 erhielt Nawalny seine offizielle Strafe: neun Jahre im strengen Vollzug. Zu dem Zeitpunkt hatte er offenbar die Hoffnung aufgegeben, auf politischen Druck hin befreit zu werden. Also musste er sein "Denken anpassen". Er handelte nach dem Motto "Stell dir das Schlimmste vor, was passieren kann, und akzeptiere es."
Offenbar half ihm der Krieg in der Ukraine, sein Schicksal zu akzeptieren. Er schrieb: "Ich bin 45. Ich habe eine Familie und Kinder, ich hatte ein Leben. Aber da tobt gerade ein Krieg. Nehmen wir an, ein 19-Jähriger fährt in einem gepanzerten Fahrzeug, ein Stück Schrapnell erwischt ihn am Kopf, und alles ist vorbei." Nawalny fuhr fort: "Er hat keine Familie gehabt, keine Kinder, kein Leben."
"Gerade jetzt liegen tote Zivilisten in den Straßen von Mariupol und viele landen mit viel Glück vielleicht noch in einem Massengrab – obwohl sie daran keine Schuld tragen", sinnierte der Oppositionelle über den Krieg und verglich seine Situation damit. "Ich habe meine Entscheidungen getroffen, doch diese Leute haben einfach nur ihr Leben gelebt."
Andere Einträge des Tagebuchs beschreiben seinen Alltag im Gefängnis. Viele handeln von den Schikanen der Gefängniswärter oder des Systems. Mit Humor beschreibt er zum Beispiel, wie er bemerkt hatte, dass zwei Mitinsassen ihn ausspionierten, weil er innerhalb einer Minute dreimal den Waschraum betrat, und sie ihm jedes Mal folgten.
Aber auch von schönen, menschlichen Momenten berichtet er, zum Beispiel als ein anderer Insasse ihm ein Bild eines Erzengels schenkte, obwohl niemand mit ihm sprechen durfte.
Auch das dramatische Gespräch mit seiner Frau Julia, in der sie beide das Schlimmste akzeptierten, beschrieb er. Nawalny umarmte Julia, nachdem er festgestellt hatte, dass auch sie es akzeptiert hatte. Er schrieb im Tagebuch: "Julia lachte und befreite sich aus meiner Umarmung. Ich küsste sie auf die Nase und fühlte mich viel besser."