Welt

Wie China mit verarmtem Bub Propaganda macht

Heute Redaktion
Teilen

Jeden Tag läuft der kleine Wang Fuman (8) bei Minusgraden zur Schule – sein Haar ist eisverkrustet. Doch die Regierung macht aus seiner Armut ihre eigene Erfolgsstory.

Wang Fuman (8) aus der Stadt Zhaotong in der südwestchinesischen Provinz Yunnan kam ohne Winterjacke oder Handschuhe in die Schule. Bei minus 9 Grad war er eine Stunde lang zur Schule gelaufen, seine Wimpern und sein schwarzes Haar waren mit Eis überzogen. Er habe seine Handschuhe vergessen, sagte der Bub. Doch die Frostbeulen an den kleinen Händen wiesen darauf hin, dass er solche möglicherweise gar nicht besitzt.

Der Schulleiter machte ein Foto von dem durchgefrorenen Buben und stellte es online. Die Folge: Menschen aus dem ganzen Land nahmen Anteil an Wangs Schicksal. Sie spendeten für eine Winterjacke, schickten auch der Familie Geld. Der Achtjährige wurde zum "Frost Boy" – und zum Symbol für die Kinderarmut in den ländlichen Regionen Chinas.

Dort geht es vielen Kindern wie Wang, der bei seiner kranken Großmutter wohnt. Seine Mutter arbeitet weit entfernt, er sieht sie nur etwa zweimal im Jahr, wie die "New York Times" schreibt.

Unterernährte und isolierte Kinder

Auf dem Land, wo rund 40 Prozent der Bevölkerung wohnen, wurden viele Schulen geschlossen, weswegen zahlreiche Kinder gar nicht mehr unterrichtet werden. Dafür macht sich die Armut breit: Viele Kinder sind unterernährt und leben isoliert und in ärmlichen Verhältnissen.

Angesichts der vielen Spenden, die das Foto des "Frost Boys" ausgelöst hatte, scheinen sich die Menschen in China dieser Missstände bewusst: Sie schickten nicht nur der Schule des Achtjährigen, sondern auch mehreren Kinderhilfswerken Geld. Es kamen umgerechnet über 275.000 Euro zusammen.

Vom "Frost Boy" zum "Propaganda Boy"

Der Staat aber drehte den Spieß um, denn letztlich versagt er hier; die sozialen Missstände sollten nie öffentlich gemacht werden. Wang sollte die Nation nicht länger an die Missstände in den ländlichen Regionen erinnern, sondern fortan für Willensstärke und chinesische Widerstandsfähigkeit stehen.

So wurde Wang Fuman dieses Wochenende medienwirksam nach Peking eingeladen, wo die Kommunistische Partei das Kind als "patriotischen Helden" feierte. Fotos des Kleinen zirkulierten, wie er auf dem Tiananmen-Platz die chinesische Flagge schwingt und, da er Polizist werden möchte, in Ausrüstung samt Helm gesteckt und auf ein Polizeimotorrad gesetzt wird. "Ich werde die Berge bestimmt einmal verlassen, ich werde hart lernen und dann Polizist werden", sagte der Kleine bei einem Auftritt.

"Sogar Armut kann vermarktet werden"

"Wang wurde als 'Gegenmittel' zur Kritik an der staatlichen Handhabung der Armut im Land benutzt", sagt ein China-Kenner der "New York Times". "Die Einladung nach Peking verschmilzt die Geschichte von seinen persönlichen Anstrengungen mit dem Narrativ der Partei um ihre nationalen Anstrengungen." Der Fokus auf den Buben habe den Behörden dabei geholfen, zumindest temporär eine schmerzhafte politische Diskussion zu führen und eine öffentliche Blamage abzuwenden.

Jedoch überzeugte die Inszenierung nicht alle Bürger restlos: Der Auftritt in Peking "hat mir die Tränen in die Augen getrieben", schreibt zwar ein Nutzer auf Weibo, dem chinesischen Pendant zu Facebook. Ein anderer kommentiert jedoch, dass das "Salutieren unter der Flagge auch nichts ändert". Anscheinend könne im Zeitalter des Konsums alles vermarktet werden, "sogar Armut", schreibt ein anderer. (gux)