Wien

Wiener muss sich scheiden lassen – sonst keine Rente

Mit vier Jahren kam Christian R. (62) ins Heim, wurde brutal misshandelt. Trotzdem hat der Wiener keinen Anspruch auf Heimopferrente.

Christine Ziechert
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Christian R. verbrachte elf Jahre lang in Heimen.
Christian R. verbrachte elf Jahre lang in Heimen.
Sabine Hertel

Die Vergangenheit lässt Christian R. auch nach über 50 Jahren nicht los. Der Wiener wurde kurz nach seinem vierten Geburtstag seiner Mutter abgenommen, weil diese laut Jugendamt "liebenswert debil" und damit nicht fähig war, für ihn und seine vier Geschwister zu sorgen.

Der Vierjährige kam daraufhin in mehrere Heime, darunter in Lilienfeld und Altenberg (beide NÖ) sowie auch in die berüchtigte Anstalt auf der Hohen Warte in Wien: "Schläge waren im Heim an der Tagesordnung, etwa mit dem Lineal auf Hände und Fußsohlen. Eine Kopfnuss vom Lehrer war das Mindeste. Einmal hat mir ein Erzieher mit der Faust einen Zahn ausgeschlagen, ein anderer ist mit uns stundenlang ohne Ziel durch Wien marschiert", erzählt Christian R.

"Wir mussten manchmal stundenlang auf einem Baumstumpf stehen oder wurden mehrmals mit eiskaltem Wasser aus einem Schlauch abgespritzt" - Christian R., Heimopfer

Insgesamt elf Jahre verbrachte der Wiener in Heimen: "Die ersten fünf Jahre auf der Hohen Warte waren am schlimmsten. Wir mussten manchmal stundenlang auf einem Baumstumpf stehen oder wurden mehrmals mit eiskaltem Wasser aus einem Schlauch abgespritzt. Wenn die Erzieher schlecht aufgelegt waren, haben es die Kinder zu spüren bekommen", erinnert sich der 62-Jährige.

Drohungen und Strafarbeiten wie Kloputzen waren damals gang und gäbe: "Wenn wir schlimm waren, haben sie uns gedroht, dass wir am Wochenende nicht nach Hause dürfen. Einmal hatte ich im Jahresabschluss-Zeugnis einen Fünfer. Daraufhin durfte ich den ganzen Sommer nicht heim."

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    Getty Images, Ostfilm
    "Ich habe oft die Kleinen weinen gehört. Manchmal sind auch Kinder über Nacht verschwunden, aber keiner hat sich interessiert dafür" - Christian R.

    Auch das Leid der anderen Kinder bekam Christian R. mit: "Wir waren fast alle Bettnässer. Ich habe oft die Kleinen weinen gehört. Manchmal sind auch Kinder über Nacht verschwunden, aber keiner hat sich interessiert dafür. Auch die Polizisten haben uns geschlagen – mit nassen Handtüchern, damit möglichst wenig Spuren zurückbleiben."

    Nach acht Fluchtversuchen wurde Christian R. schließlich im Alter von 15 Jahren entlassen: "Sie stellten mich in einem alten Anzug und löchrigen Schuhen einfach vor die Türe." Der Wiener wollte Installateur werden, fing eine Lehre bei einem Betrieb an: "Weil ich lange Haare hatte und ein ehemaliges Heimkind war, beschuldigten sich mich, einen Lockenwickler von einer Kundin gestohlen zu haben. Daraufhin wurde ich gekündigt."

    " Ich bin arbeitsunfähig. Weil ich aber nicht ausreichend Versicherungsmonate habe, bekomme ich keine Pension" - Christian R.

    Danach schlug sich Christian R. mit Gelegenheitsjobs durch: "Ich hab' alles gemacht: Fliesenlegen, Hafnerei und Estrichlegen. Aber 2003 hatte ich einen Unfall. Beim Entsorgen ist mir ein 100-Liter-Tank auf die rechte Hand gefallen", erzählt der 62-Jährige. 

    Aufgrund der Verletzung wurde der Wiener vom Amtsarzt jahrelang krank geschrieben. Zudem leidet Christian R. an schwerer Diabetes und Herzinsuffizienz: "Ich hab' schon drei Stents und zusätzlich Wasser im Herz und in der Lunge. Laut Pensionsversicherungsanstalt (PVA) bin ich arbeitsunfähig. Weil ich aber nicht ausreichend Versicherungsmonate habe, bekomme ich keine Pension."

    "Würde meine Frau sterben oder wären wir geschieden, könnte ich Mindestsicherung beziehen und dann auch die Heimopferrente beantragen" - Christian R.

    Halt gibt ihm seine Frau Sylvia, mit der er seit 1988 verheiratet ist. Gemeinsam lebt das Paar in einer 48 Quadratmeter großen Gemeindebau-Wohnung in Wien-Floridsdorf: "Meine Frau bezieht Mindestpension, davon leben wir. Ich habe keinen Anspruch auf Pension oder Arbeitslosengeld, da ich arbeitsunfähig bin. Wir müssen daher mit diesem Betrag auskommen." 

    Aufgrund seiner Misshandlungen in Heimen erhielt Christian R. eine einmalige Entschädigung in Höhe von 20.000 Euro. Zudem hätte er schon vor dem Pensionsantritt (mit 65 Jahren) Anspruch auf 347,40 Euro monatliche Heimopferrente – eigentlich: "Weil ich verheiratet bin und meine Frau Mindestpension bezieht, wurde sie zweimal nicht bewilligt. Würde meine Frau sterben oder wären wir geschieden, könnte ich Mindestsicherung beziehen und dann auch die Heimopferrente beantragen", meint der 62-Jährige. 

    Volksanwaltschaft kritisiert Gesetzeslücke

    Der Wiener wandte sich an die Volksanwaltschaft, die die unzureichende Gesetzeslage beim Heimopferrentengesetz (HOG) im kürzlich präsentierten Jahresbericht kritisierte: "Es gibt eine Gruppe von Heimopfern, die keinen Anspruch auf die Heimopferrente vor dem gesetzlichen Pensionsalter hat. Dieses Problem trifft Männer und Frauen, die aufgrund fehlender Beitragsmonate keinen Anspruch auf eine Eigenpension haben und aufgrund des Haushaltseinkommens der Ehepartnerin bzw. des Ehepartners keine Leistung der Mindestsicherung bekommen, obwohl sie nicht mehr arbeitsfähig sind."

    Weiter heißt es im Bericht: "Wären sie alleinstehend, hätten sie Anspruch auf eine Dauerleistung der Mindestsicherung und damit auch auf Auszahlung der Heimopferrente." "Diese Differenzierung von Alleinstehenden zu in Partnerschaft lebenden Heimopfern erscheint nicht geboten. Der Gesetzgeber muss diese Ungleichbehandlung beseitigen", fordert Volksanwalt Bernhard Achitz.