Österreich

Zwangsheirat: Mädchen in Wien werden immer jünger

Heute Redaktion
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2015 musste Kheda Goilabiyeva (17) unter Tränen in Tschetschenien Polizei-Chef Nazhud Guchigov (47) heiraten.
2015 musste Kheda Goilabiyeva (17) unter Tränen in Tschetschenien Polizei-Chef Nazhud Guchigov (47) heiraten.
Bild: picturedesk.com/Symbolbild

Der Wiener Verein "Orient Express" betreut Mädchen, die von einer Zwangsheirat bedroht sind. Weil Betroffene immer jünger werden, sollen bald 15-Jährige aufgenommen werden.

Die Zahl der von Zwangsheirat bedrohten Mädchen und jungen Frauen in Wien steigt laut Selma Demir vom Verein "Orient Express" stetig an. Der Verein bietet Mädchen im Alter von 16 bis 24 Jahren in einer geheimen Notwohnung Schutz, mit einer Ausnahme-Bewilligung können aber auch Jüngere aufgenommen werden.

Ein Fall, der auch aufgrund der verstärkten Präventionsarbeit immer häufiger auftritt: "Die Klientinnen, die sich an uns wenden, werden immer jünger. Früher waren 70 % volljährig und 30 % minderjährig. Jetzt ist es genau umgekehrt", meint Demir. Derzeit läuft daher ein Ansuchen bei der Kinder- und Jugend-Hilfe, das Mindestalter für die Aufnahme auf 15 Jahre herabzusetzen. "Der Antrag ist noch in Arbeit, wir rechnen damit, dass er heuer noch durchgeht", so Demir.

Insgesamt wurden im Jahr 2018 zum Thema Zwangsheirat 402 Beratungen durchgeführt, im Jahr 2019 waren es schon 456 – das entspricht fast einem Drittel aller durchgeführten Gespräche (gesamt: 1.500). Neben Zwangsheirat geht es in der Beratung auch um familiäre und partnerschaftliche Probleme sowie um Generationen-Konflikte.

Auch die Zahl der von Zwangsheirat bedrohten Klientinnen, die die Beratungsstelle persönlich aufsuchten, ging in die Höhe: 2018 waren es 123, 2019 bereits 139. 36 (2018) bzw. 40 (2019) wurden anschließend in einer Schutzeinrichtung untergebracht. Viele Betroffene finden den Weg zum Verein auch über das Jugendamt, die Polizei oder den Frauen-Notruf.

Kontakt zur Familie wird komplett abgebrochen

Den Anstieg der Klientinnen – sie stammen hauptsächlich aus Afghanistan, Syrien, Tschetschenien, Serbien, der Türkei und dem Irak – führt Demir auch darauf zurück, dass "wir immer mehr Klientinnen durch unsere Aufklärungsarbeit erreichen." Wenden sich Betroffene an den Verein, gibt es mehrere Beratungsgespräche (auf Türkisch, Arabisch, Englisch und Deutsch). Danach wird entschieden, ob das Mädchen in die geschützte Notwohnung (derzeit acht Plätze und zwei Notbetten) oder in eine Übergangs-Wohnung (seit 2019) kommt. Warteliste gibt es keine: "Wir entscheiden je nach Akutsituation", so Demir.

Dieser Schritt fällt den Mädchen oft nicht leicht: Oft brechen sie den Kontakt zu ihrer Familie komplett ab, die Adresse der Wohnung muss geheim bleiben: "In der Wohnung herrscht striktes Handy-Verbot, und es gibt begrenzte Ausgangszeiten. Das sind alles Schutz-Maßnahmen", erklärt Demir.

Auch Armina (18) aus Tschetschenien weiß, wie sich ein Neustart anfühlt: Als ihre Eltern herausfanden, dass sie heimlich einen Freund hatte, verboten sie ihr den Kontakt, überwachten sie streng und suchten einen geeigneten Heiratskandidaten: "Ich habe mir Sorgen gemacht, dass meine Eltern bald einen Kandidaten finden werden und habe versucht, mich dagegen zu wehren", erzählt Armina – leider erfolglos. Die Eltern beharrten auf der Heirat, in letzter Sekunde konnte die 18-Jährige flüchten und lebte einige Monate in der Notwohnung. Sie wechselte die Schule sowie das Bundesland und führt nun ein eigenständiges Leben in einer betreuten WG.