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"Kein Mensch kann Jungfräulichkeit nachweisen"

Wenn es ums Jungfernhäutchen geht, kursieren nach wie vor viele ungeklärte Fragen und Mythen. Eine Gynäkologin entkräftet diese.

Heute Redaktion
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Bild: iStock

Frau Draths, was ist der größte Irrtum in Bezug auf das Jungfernhäutchen? Da gibt es einige. Am hartnäckigsten hält sich wohl, dass das Hymen, wie wir Mediziner diese anatomische Struktur nennen, ein Häutchen ist.



Wenn das Hymen kein Häutchen ist – was ist es dann?
Eine Schleimhautfalte, die die Scheidenöffnung umrandet. Obwohl die Bezeichnung "Häutchen" es vielleicht vermuten lässt, wird die Scheide vom Hymen nicht wie von einer Frischhaltefolie abgedeckt. Man kann sich das Ganze eher wie ein Scrunchie vorstellen, das dehnbar ist und kleine Falten hat. Eigentlich ist das Hymen ein Überbleibsel der sogenannten Vaginalplatte beim Embryo. Und die öffnet sich erst nach und nach.

Was bedeutet das genau? Die Form und Struktur des Hymen ändert sich mit den Lebensjahren immer wieder. Sie wird durch die Hormonlage beeinflusst und unterscheidet sich auch von Mädchen zu Mädchen: In der Kindheit ist es meist dünn und empfindlich. Während der Pubertät wird es dann weich und so dehnbar, dass die meisten jungen Frauen keine Probleme beim Gebrauch eines Tampons und meist auch keine Blutung beim ersten Sex haben.

Warum bluten manche beim ersten Mal trotzdem? Durch das Eindringen des Penis wird die Hymenalöffnung stark gedehnt. Wenn die Öffnung eher eng ist, kann das Hymen einreißen.

Ist das die Stelle, an der manche erkennen wollen, ob ein Mädchen noch Jungfrau ist? Ja. Aber die Annahme, ein Arzt könne immer mit Sicherheit feststellen, ob eine bestimmte Person bereits Sex hatte oder nicht, ist ein weiterer Irrglaube.

Wirklich? Oft wird das Hymen beim Sex einfach nur gedehnt, ohne dass es zu Rissen und damit zu Narben kommt. Abgesehen davon, ist das Hymen ziemlich gut durchblutet und heilt schnell. Ein Riss ist oftmals schon nach wenigen Tagen nicht mehr zu sehen. Dieser Fakt ist im Übrigen auch relevant, wenn es um die Klärung eines sexuellen Missbrauchs in der Kindheit geht. Bei kleinen Mädchen, die missbraucht wurden, heilt das Hymen so rasch, dass es in 90 Prozent der Fälle keine sichtbaren Anzeichen mehr gibt.

Das heißt, ein Arzt oder eine Ärztin kann also unter keinen Umständen sagen, ob eine Frau noch Jungfrau ist. Genau. Kein Mensch kann Jungfräulichkeit mit Sicherheit nachweisen. In der Schweiz dürfen und sollen sich Gynäkologen meiner Meinung nach weigern, so eine Untersuchung ohne medizinische Indikation und ohne Wunsch der Patientin vorzunehmen.

Warum hält sich das intakte Hymen als Zeichen der Jungfräulichkeit trotzdem so hartnäckig? Das ist wohl in erster Linie eine Machtfrage – die Kontrolle von Männern über Frauen. In keiner Kultur wird die Jungfräulichkeit von einem Mann gefordert. Im Gegenteil: Männliche Potenz und Sexualität gelten als Zeichen von Kraft und Erfolg. Dazu kommt, dass bis heute zahlreiche falsche Vorstellungen im Zusammenhang mit Sexualität, Fruchtbarkeit und Verhütung in den Köpfen herumgeistern.

Bemerken Sie das auch in Ihrer Praxis? Bei muslimischen Mädchen tauchen oft Fragen auf. Auch bei deren Müttern herrschen immer wieder Unklarheiten und Ängste bezüglich der Jungfräulichkeit. Bei der gynäkologischen Untersuchung zeige ich den Mädchen das Hymen im Handspiegel und erkläre ihnen, dass Jungfräulichkeit keine anatomische Struktur ist, sondern eine Frage des Verhaltens, die lautet: Hattest du schon Sex oder nicht? Beantworten können nur sie das.

In Marokko ist für Frauen ein ärztliches Jungfräulichkeitszertifikat Pflicht, um heiraten zu dürfen. In Indonesien, um für den Dienst bei Polizei und Militär zugelassen zu werden. Diese ganze Praxis ist ein Skandal, ein Unterdrückungsinstrument gegen die Frau im Allgemeinen. In diesen Ländern boomt ja auch die Operation am Hymen, um wieder jungfräulich zu werden. All das Geld, all diese Schmerzen, nur um diesen Irrglauben aufrecht zu erhalten. Eine Ehe gründet in solchen Fällen nicht auf Achtung und Vertrauen. Es gibt keinen Respekt vor der Frau als Person – ihre Meinung, ihre Geschichte und ihre Gefühle zählen nichts. Und das hat einen direkten Zusammenhang mit der Zwangsheirat, aber auch mit der weit verbreiteten sexuellen Gewalt gegen Mädchen und Frauen.

Dr. Ruth Draths ist Jugendgynäkologin in der Frauenpraxis Buchenhof in Sursee

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