Ukraine

3 Monate bis zum Abschluss – doch dann kam der Krieg

Der ghanaische Medizinstudent Listowell (28) sollte in der Ukraine bald seinen Abschluss machen. Putin hat nun alles zunichte gemacht.
20 Minuten
04.03.2022, 20:45

Listowell (28) aus Ghana studiert seit sieben Jahren Medizin in der zentralukrainischen Stadt Poltawa. In drei Monaten macht er seinen Abschluss – korrekterweise: hätte er seinen Abschluss gemacht. Denn der Krieg ist ausgebrochen und damit jede Gewissheit um die Zukunft erloschen.

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"Es ist sehr frustrierend", sagt er im Gespräch mit der Schweizer Pendlerzeitung "20 Minuten" in der Hotellobby im polnischen Lublin. "Ich kann mir nicht sicher sein, ob alles umsonst war - neben der Zeit habe ich auch eine Stange Geld in das Studium investiert, gut 26.000 Dollar für die Uni-Gebühren allein."

Er und seine gleichaltrige Cousine, die ebenfalls in Poltawa Medizin studiert, nehmen den Zug in die polnische Hauptstadt. "Wir haben das Glück, Verwandte in den Niederlanden zu haben. Dort wollen wir nun einen Asylantrag stellen – und schauen, ob wir dort unseren Medizinabschluss machen können."

Jetzt mussten er und seine Cousine flüchten. Fotografieren lassen, wollten sie sich nur von hinten.
20 Minuten / Ann Guenter

"Häuser wurden mit grüner Farbe markiert"

Am Donnerstag ist es eine Woche her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Der Ghanaer wacht in der Morgendämmerung durch das Sirenengeheule auf. "Ich sah, wie einige Leute anfingen, Wohnhäuser mit grüner Farbe mit einem großen X zu markieren – es waren dort lebende Russen, die den vorrückenden russischen Truppen anzeigen wollten, in welche Gebäuden Russen wohnten und in welchen nicht."

Er weiß, dass er und seine Cousine so schnell wie möglich westwärts reisen müssten, möglichst weg aus dem Osten des Landes. "Wir nahmen noch am gleichen Tag den Zug nach Lwiw. Eigentlich hätten wir in Kiew halten müssen, doch der Zug fuhr durch."

"Vom Zug sollten keine Signale ausgehen"

Kurz vor Erreichen der ukrainischen Hauptstadt hätten die Schaffner sich an die Passagiere gewandt und alle aufgefordert, Kabinenlichter und Handys auszuschalten. "Vom Zug sollten keine Signale ausgehen. Es war stockdunkel. Wir fuhren ganz langsam. Es war 20 Uhr und die sonst so lebendige Stadt war nicht wiederzuerkennen. Eine Geisterstadt, erleuchtet durch Blitze der Explosionen. Ich hatte Angst, wir hatten alle Angst."

Was konnte er mitnehmen, was musste er in Poltawa zurücklassen? "Eigentlich alles, von Kleidung über Bücher bis zu meinem Wagen habe ich alles in meiner Wohnung gelassen. Soeben habe ich meine Miete für den März bezahlt – so sind die Sachen vorerst einmal sicher. Den Autoschlüssel habe ich meiner Vermieterin gegeben. Sie soll den Wagen verkaufen, wenn sie kann."

"Von Diskriminierung habe ich an der Grenze nichts bemerkt"

18 Stunden später kam Listowell in Lwiw an, wo er mit seiner Cousine übernachtete. Am frühen Morgen sicherten sie sich für umgerechnet 120 Euro zwei Plätze auf einem Bus, der an die polnische Grenze fuhr. Kann er Berichte bestätigen, wonach es an der Grenze zu Schikanierungen und Diskriminierung von dunkelhäutigen Menschen kam? "Nein, das kann ich nicht. Diskriminierung gehört für Dunkelhäutige zum Leben dazu, aber an der Grenze habe ich davon nichts bemerkt."

Gab es, wie auch zu lesen war, zwei Abfertigungsreihen für Hell- und Dunkelhäutige? Der 28-Jährige lacht auf: "Tatsächlich sah ich, wie die Menschen in zwei verschiedene Reihen aufgeteilt wurden – aber das hatte mit fehlenden Dokumenten zu tun, nicht mit der Hautfarbe."

"150 Kilometer haben den Unterschied gemacht"

Die Zukunft des Ghanaers ist unplanbar geworden, es gibt keine Sicherheit mehr, was nun passieren wird. "Aber ich habe es aus der Ukraine geschafft – im Gegensatz zu vielen anderen". Er denkt dabei auch an die über 500 Studierenden aus Nigeria, die in Sumy festsitzen. In der ostukrainischen Stadt toben heftige Kämpfe und werden schwere Schäden verzeichnet.

"Die Studierenden haben sich in Kellern und Bunkern verschanzt. Doch sie haben kaum Essen und finden niemanden, der sie evakuiert, solange die Gefechte andauern. Sumy liegt gleich bei der russischen Grenze – wir hatten großes Glück, weiter südlich in Poltawa zu leben. 150 Kilometer haben den Unterschied in unserem Leben gemacht".

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