Life

"In allen Erfolgsberufen wird Kokain konsumiert"

Heute Redaktion
Teilen

"Konsumieren, um zu funktionieren" ist die Devise beim sogenannten "Alltagsdoping", sagt Prof. Michael Musalek. Es ist nach außen nicht sichtbar, kann aber schlimme Folgen nach sich ziehen.

Heute.at: Was ist Alltagsdoping?

Prof. Michael Musalek: Als Alltagsdoping wird die Einnahme von Substanzen zur Leistungssteigerung bezeichnet. Wir unterscheiden zwischen Stoffen, die aufputschend wirken, etwa Kokain, und solchen, die beruhigend wirken. Also Beruhigungsmittel, Schmerzmittel und Alkohol.

"Alltagsdoping kann grundsätzlich jeden betreffen, der sich in einer beruflichen Situation mit Erfolgsdruck befindet."

Gibt es bestimmte Berufe oder Altersgruppen, in denen Alltagsdoping besonders verbreitet ist?

Alltagsdoping kann grundsätzlich jeden betreffen, der sich in einer beruflichen Situation mit Erfolgsdruck befindet. Besonders gefährlich wird es bei Mehrfachbelastungen, daher sind Frauen auch oft betroffen – Beruf, Pflege und Familie kommen oft zusammen, es gibt abseits davon keinen Freiraum.

Wie unterscheidet sich Alltagsdoping von Sport-Doping?

Das Prinzip ist dasselbe – nur gibt es im Sport entsprechende Regularien und ein Problembewusstsein. Das fehlt beim Alltagsdoping. Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie Doping im Alltag betreiben. Ein Beispiel ist der After-Work-Drink. Das kann zwar Genusstrinken sein, aber auch zum Spannungsabbau eingesetzt werden. Und wenn es sich einschleicht, kann der regelmäßige Alkoholkonsum nach der Arbeit zum Alltagsdoping werden. Hier spielen das hohe Suchtpotenzial und die Toleranzentwicklung eine Rolle. Um die Wirkung zu spüren, muss man mit der Zeit immer mehr konsumieren.

"Die 'Beruhigungszigarette' existiert nicht."

Zur Person

Univ.-Prof. Prim. Dr. Michael Musalek, ärztlicher Leiter des Anton Proksch Instituts und Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der Sigmund Freud Privatuniversität Wien (SFU). (Foto: API)

Zählen auch Zigaretten dazu?

Nikotin ist in diesem Zusammenhang schwierig. Einerseits zählt der Stoff zu den Stimulanzien, andererseits gibt es eine Grenze. Bei zu hohem Konsum kommt es zu einer Kohlenmonoxidvergiftung. Was ich aber sagen kann ist, dass die "Beruhigungszigarette" nicht existiert. Im Gegenteil: Das Nervensystem wird angeregt und man ist für einen kurzen Zeitraum leistungsfähiger.

Welche Rolle spielen illegale Drogen?

Kokain ist am weitesten verbreitet. Und das nicht nur in Randgruppen, wie es vor einigen Jahrzehnten der Fall war, sondern quer durch alle Erfolgsberufe. Stoffe wie Crystal Meth haben als Alltagsdroge eine eher geringe Bedeutung. Sie werden eher als Partydroge eingesetzt.

Was sind die Langzeitfolgen?

Zunächst kommt es zu einer Suchterkrankung. Diese schleicht sich ein. Betroffene sind sich ihrer Sucht erst bewusst, wenn sie bereits süchtig sind. Davon abgesehen kommt es ganz auf die Substanz an. Besonders beim Alkohol ist das Risiko enorm – er kann alle Körpersysteme schädigen. Das Nervensystem, die Organe und mehr.

"Es ist egal, wie viel Marcel Hirscher leistet, solange er gewinnt."

Wo sehen Sie die Ursachen für Medikamenten- und Drogenmissbrauch?

Großteils bei unserer Erfolgsgesellschaft. Sie wird auch als Leistungsgesellschaft bezeichnet, doch Leistung an sich ist egal, wenn man keinen Erfolg hat. Erfolg ist die massivste Triebfeder – es ist egal, wie viel Marcel Hirscher leistet, solange er gewinnt. Und Arbeit ist vergleichbar mit Ausdauersport. Auch dort hat Doping massivere Auswirkungen als bei Disziplinen, in denen nur sehr kurz eine große Leistung erbracht werden muss.

Was hat der Wandel des Arbeitsmarktes damit zu tun?

In der Arbeitswelt muss man heutzutage dauernd erfolgreich und erreichbar sein. Und wenn man keinen Erfolg hat, verliert man alles sehr schnell wieder. In den letzten zehn bis zwanzig Jahren ist der Druck gestiegen und gleichzeitig die Solidarität in der Gesellschaft gesunken. Noch dazu sind verschiedene Menschen auch verschieden leistungsfähig. Jeder kann etwas anderes, aber nach dem Maßstab des Erfolges müssen alle gleich gut sein.

Sie starten nun eine großangelegte Studie zu Alltagsdoping. Welche offenen Fragen wollen Sie klären?

Es geht vor allem um zwei Fragen: Wie häufig ist Alltagsdoping und was sind die Mechanismen dahinter? In einem ersten Schritt werden 1.000 Österreicher von einem Meinungsforschungsinstitut befragt. Zu diesem repräsentativen Sample kommen qualitative Interviews, die von Suchtexperten geführt werden. Um den Jahreswechsel 2020/21 sind erste Ergebnisse zu erwarten.

Hast du schon einmal Erfahrungen mit Alltagsdoping gemacht? Erzähl uns deine Geschichte mit einer Mail an [email protected].