Politik

Rudi Anschober rechnet in neuem Buch mit Politik ab

Ex-Gesundheitsminister Rudolf Anschober versucht ist seinem Buch eindrucksvoll, das Pandemiemanagement aufzuarbeiten.

Leo Stempfl
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Auch, was es mit Anschobers Lieblings-Maske auf sich hat, erfährt man in "Pandemia".
Auch, was es mit Anschobers Lieblings-Maske auf sich hat, erfährt man in "Pandemia".
Helmut Graf, Zsolnay Verlag

Es ist ein bisschen wie eine Zeitreise. Eine Zeit, in der 40 Neuinfektionen eine Katastrophe sind und sogar die FPÖ rasche Corona-Maßnahmen fordert. Wo es endet, wissen wir alle. Wie es war, die wohl wichtigsten Entscheidungen der letzten Jahre zu treffen, beschreibt Rudi Anschober in seinem Buch "Pandemia".

Dieses erscheint am Montag, also fast exakt ein Jahr nach seinem gesundheitsbedingten Rücktritt. Es ist die erste Innenansicht eines europäischen Gesundheitsministers in der Pandemie. "Pandemia ist die Summe meiner subjektiven Erfahrungen mit der Pandemie: eigene Erlebnisse, Geschichten von und über Betroffene sowie Sachinformationen, die ich in den vergangenen zwei Jahren gesammelt habe und hier auf mehreren Ebenen aufarbeite", schreibt Anschober einleitend.

Es ist da

Das Buch ist aus mehreren Perspektiven geschrieben, folgt grundsätzlich einem chronologischen Strang, springt ab und an jedoch einige Wochen hin und her. "Es ist da" steht am Anfang: Andrea ist krank, doch sie spürt, dass das keine normale Grippe ist. Erst nach zahlreichen Telefonaten kommt sie an einen Corona-Test, dessen Ergebnis nach mehreren Tagen Auswertung positiv zurückkommt – einer der ersten Corona-Fälle.

Immer wieder schreibt Anschober über das fiktive Erleben mehrerer Personen, die von der Pandemie auf ganz unterschiedlichen Ebenen betroffen sind. Da gibt es etwa auch Karl, einen leidenschaftlichen Italien-Urlauber oder Dieter, der im Kreis Heinsberg Karneval feiert. Marc ist Pfleger, schiebt Überstunden, kriegt wenig Gehalt. Eigentlich, so Anschober einleitend, sollte der Pflegenotstand eines seiner Hauptthemen als Minister sein. Doch daraus wurde nichts.

Sein eigenes Erleben schildert er aus der Ich-Perspektive, stets mit Angabe des Datums und "Bericht aus dem Maschinenraum" getitelt. Am 6. März war da etwa eine Reise nach Brüssel zu einer Sonderkonferenz der EU-Außenminister, von Masken war da noch keine Spur. Trotzdem: "Heute wurden allein in Österreich 47 Neuinfektionen registriert", schreibt Anschober besorgt.

Quaranta

Schon eine Woche später rollt die gewaltige Welle mit unzähligen Todesopfern über Europa. Damit stellt sich die Überlegung eines Lockdowns. "Ich denke zurück an die Zeit, in der ich nicht einmal geahnt habe, dass es diese Frage überhaupt gibt – geschweige denn, dass ich es sein würde, der eine Antwort darauf finden muss."

Erste, leichtere Maßnahmen bringen kein Absinken der Infektionszahlen. Ausführlich schildert der damalige Gesundheitsminister seine Überlegungen, sein Hin-und-Her, seine Gespräche mit Experten, ob ein Lockdown vertretbar, ja überhaupt möglich sei. Dabei finden sich auch historische Vergleiche, etwa zur Pest in Venedig, wo ankommende 40 Tage auf ihren Schiffen ausharren mussten (vierzig, quaranta, daher Quarantäne). Seit Jahrhunderten hat sich dieses Konzept bewährt.

So viel davor abgewogen und konsultiert wurde, so schnell ist die Entscheidung getroffen – "innerhalb von knapp zwei Stunden und ohne einen einzigen Einspruch." Erst mit April folgte die Einführung der Maskenpflicht, als Bundeskanzler Sebastian Kurz mit Amtskollegen in Asien telefonierte. Nachdem die Neuinfektionen auf bis zu 1.000 steigen, sinken sie wieder rasant ab.

Nur wenige Tage vor den ersten Corona-Fällen traf "Heute" den Sozialminister, wie der Posten damals noch zumeist genannt wurde, mit Hund Agur zum Öffi-Talk.
Nur wenige Tage vor den ersten Corona-Fällen traf "Heute" den Sozialminister, wie der Posten damals noch zumeist genannt wurde, mit Hund Agur zum Öffi-Talk.
Helmut Graf

Persönliche Sprechstunde

Die Krise scheint gemeistert, Anschober berichtet von seinem Alltag als Minister. Die U-Bahn-Fahrt ins Gesundheitsministerium nennt er seine persönliche Sprechstunde. "Viele Daumen zeigen nach oben, sogar Applaus gibt es ab und zu, kurze Gespräche entstehen. Das gibt Energie für den Tag."

Trotzdem steigt mit der Zeit die Belastung wieder. Die Umfragewerte der Regierung steigen, doch der absolute Überflieger heißt Rudi Anschober. "Erste Neider treten auf den Plan." In der ÖVP blieb es nicht unbemerkt, dass die Beliebtheitswerte jenen des Kanzlers immer näher kommen. Der Sommer wird jedenfalls für Reformprojekte und Sachpolitik genutzt.

Angesichts der steigenden Zahlen im Herbst häufen sich die Dispute. Das Vorzeigeprojekt, die Corona-Ampel, sollte eigentlich bei Überschreiten eines Schwellenwertes automatisch Maßnahmen in Kraft setzen. Doch die Landeshauptleute und Bundeskanzler Kurz sollen das verhindert haben. Bereits bei der ersten Gelbschaltung tobten der Bürgermeister von Linz und der Landeshauptmann von Oberösterreich. Die offene Konfrontation mit dem Kanzler will Anschober jedoch vermeiden.

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    Rudolf "Rudi" Anschober, Jahrgang 1960 und aus Wels, arbeitete sieben Jahre lang bis 1990 als Volksschullehrer. 1990 zog er für die Grünen als Verkehrs-, Sicherheits- und Atomsprecher in den Nationalrat ein.
    Rudolf "Rudi" Anschober, Jahrgang 1960 und aus Wels, arbeitete sieben Jahre lang bis 1990 als Volksschullehrer. 1990 zog er für die Grünen als Verkehrs-, Sicherheits- und Atomsprecher in den Nationalrat ein.
    picturedesk.com

    Morddrohungen, Personenschutz, Flucht

    Weitere Maßnahmen, nachdem der Bevölkerung versprochen wurde, die Pandemie sei gemeistert, sorgen nun aber für regen Unmut. Im November wird bei einer Corona-Demo seine Adresse bekanntgegeben, die erste Morddrohung trudelt ein. Anschober telefoniert mit dem Täter, verzichtet auf rechtliche Schritte. Doch die Morddrohungen häufen sich, Personenschutz wird notwendig. "So eine Schande, du bist auf der Flucht vor den Menschen", denkt er sich. Ein Promi macht ihn öffentlichen für den Tod eines Verwandten verantwortlich.

    Um das Ruder herumzureißen, schneller Entscheidungen zu treffen, nimmt er sich vor, "in Zukunft frühzeitig und vor der Abstimmung in der Regierung klar Position in der Öffentlichkeit zu beziehen und ebenso öffentlich Bundesländer unter Druck zu setzen. Nicht mehr getrieben zu werden, sondern zu treiben. Auch den Bundeskanzler." Das sollte später zum Verhängnis werden.

    Nach dem zweiten Lockdown im Herbst und einer vernichtenden Welle werden Anfang Dezember Öffnungen gefordert, langsam rollt die Impfung an. Als er zu einer Verhandlungsrunde kommt, traut er seinen Augen nicht. Tourismusministerin Elisabeth Köstinger ermahnt ihn im ORF-Interview, bei den Impfungen endlich in die Gänge zu kommen. Währenddessen ducke sich Kurz bei jeder Kritik weg, "surft" sogar auf diesen Wellen an Kritik. Die Zusammenarbeit ist schwierig.

    Die ÖVP will Öffnungen, die Kritik an Anschober wird härter. "Ich verlasse die Sitzung unter Protest." Das sollte eine Kehrtwende sein und klarstellen: "So will ich in einer Pandemie nicht arbeiten." Die Konfrontationen mit dem Regierungspartner werden fortan immer härter – und die "Berichte aus dem Maschinenraum" immer brisanter.

    Rudi Anschober: Pandemia (Paul Zsolnay Verlag). 272 Seiten, Gebunden. 24,70 Euro, erscheint am 11. April 2022.