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"Atomic Heart" im Test – Hype-Shooter mit Herz

Kaum ein Shooter-Fan war nicht begeistert, als "Atomic Heart" vor rund fünf Jahren angekündigt wurde. Nun ist das Game da – und begeistert gewaltig.

Rene Findenig
"Atomic Heart" im Test – nicht nur mit Waffen, auch per KI-Handschuh dürfen wir uns der Angreifer erwehren.
"Atomic Heart" im Test – nicht nur mit Waffen, auch per KI-Handschuh dürfen wir uns der Angreifer erwehren.
Mundfish

2017 kündigte Entwickler Mundfisch seinen Shooter einer neuen Generation an, nun ist es endlich so weit und Publisher Focus Entertainment ließ das Hype-Game auf PlayStation 5, PlayStation 4, Xbox Series X|S, Xbox One und PC von der Leine. Und "Atomic Heart" beweits, dass gehypte Games nicht immer floppen müssen, sondern auch wirklich ihren Erwartungen gerecht werden können. Das Game nimmt sich die besten Mechaniken und Momente aus großen Game-Serien wie "BioShock", "Wolfenstein" und "Stalker", schafft mit eigenen Ideen aber etwas ganz Neues, das man nicht verpassen sollte.

"Atomic Heart" steht aber gerade aufgrund von aktuellen Entwicklungen wie dem Ukraine-Krieg im Kreuzfeuer der Kritik. Als "Sowjet-Fanfiction" bezeichnet etwa FM4 das Game, es werde ihm ein "problematisches Naheverhältnis zum russischen Staat nachgesagt, seine Story verklärt eine Fantasyversion der Sowjetunion". In der Ukraine wird gar die Einstellung des Vertriebs des Spiels gefordert – und dass "das Geld, das durch den Kauf des Spiels eingenommen wird, für die Kriegsführung gegen die Ukraine verwenden könnte", wie der ukrainische Minister Alexander Bornyakov gegenüber den Medien erklärt.

Ein Polymer macht uns das Shooter-Leben schön schwer

Der Testbericht soll sich allerdings nur auf das in Russland entwickelte Game selbst fokussieren, auch wenn die Handlung durchaus Anlass zu Diskussionen gibt. So schlüpfen Spieler in die Rolle des Agenten P-3, der in einer fiktiven Sowjetunion lebt, in der Wissenschaft und Technik dazu geführt haben, dass Menschen nicht nur Roboter entwickelten, sondern auch mit den mittlerweile hochintelligenten Maschinen friedlich zusammenleben. Oder zumindest zusammenleben sollten, denn es gebe ja wenig zu ballern, wenn da nicht einiges schiefgehen würde. Im Kern dreht sich alles um das sogenannte Polymer.

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    2017 kündigte Entwickler Mundfisch seinen Shooter einer neuen Generation an, nun ist es endlich so weit und Publisher Focus Entertainment ließ das Hype-Game auf ...
    2017 kündigte Entwickler Mundfisch seinen Shooter einer neuen Generation an, nun ist es endlich so weit und Publisher Focus Entertainment ließ das Hype-Game auf ...
    Mundfish

    Dieses Material haben Wissenschaftler rund um einen Mann namens Dr. Sechenov in der 30er-Jahren entwickelt. Polymer lässt sich gewissermaßen "programmieren", was es ermöglicht, dass alle Maschinen über einen neuralen Link namens "Kollektiv" miteinander verbunden werden. Ein Schritt, der die Spiel-Sowjetunion zum Mittelpunkt des Weltgeschehens machte – und der nun mit dem Plan eines neuen "Kollektivs", in das auch die Menschen eingeklinkt werden, perfektioniert werden soll. Doch statt die Maschinen per Gedanken steuern zu können, kommt die große Katastrophe für die Bürger.

    Utopie, in der man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt

    Was so genau hinter der brutalen und blutigen Roboter-Revolution steckt, ist am Beginn von "Atomic Heart" nicht so ganz klar, unser Agent bekommt aber den Auftrag, einen angeblichen Saboteur zu jagen, der die Maschinen umprogrammiert haben soll. Einzig: Zwischen uns und unserem Ziel stehen Hunderte tödliche Maschinen, die uns nach dem Leben trachten. Was schon "BioShock" und "Stalker" geschafft haben, perfektioniert "Atomic Heart" nun: Die Spielwelt sieht fantastisch aus und stellt Spielern eine atmosphärische Umgebung vor, in der alte Denkmäler und Bauten auf modernste Technologie treffen.

    Das Game schafft mit Abstand die wohl spannendste Shooter-Spielwelt der vergangenen Jahre – ein vergleichsweise langes Intro stellt in gestochen scharfer und detaillierter Grafik die Welt und die Geschehnisse vor, danach darf man direkt eintauchen. Palastartige Gebäude, Säulenhallen, gigantische Statuen und riesige, dichtgedrängte Wohnblöcke – kurz Monumentalbauten aus Beton – treffen hier auf modernste und in den Alltag integrierte Roboter, Drohnen am Himmel und riesigen Hologramm-Einblendungen. Es ist eine grandiose Utopie, in der man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt.

    Technisch ist "Atomic Heart" ein Shooter-Meisterwerk

    Zwar lässt die grafische Opulenz im Verlauf des Spiels etwas nach, dennoch müssen in Sachen Atmosphäre andere Shooter "Atomic Heart" erst einmal eine solch fantastische Spielwelt nachmachen. Und auch sonst stimmt technisch alles: Die Sprachausgabe ist hervorragend gelungen, die Handlung fesselt mit sehr viel Spannung und einigen Grusel-Momenten, die Roboter wirken teils geradezu "Menschen-echt", teils extrem unheimlich, die Umgebungen zeigen sich abwechslungsreich – und das Gameplay läuft flüssig ohne Bugs ab. Technisch ist das Erstlingswerk der Entwickler ein Shooter-Meisterwerk.

    Doch nicht nur Grafik, Spielwelt und Technik haben es in sich, auch das Gameplay selbst kann überzeugen. Seine eigene Identität schafft sich "Atomic Heart" spielerisch, indem es uns nicht nur fette Waffen in die Hand drückt, sondern auch einen Handschuh mit künstlicher Intelligenz. Und die ist so intelligent, dass unser Protagonist mit dem Handschuh kämpfen und Objekte manipulieren, sondern auch diskutieren kann. Ja, richtig gelesen, ein überraschend großer Teil der Handlung wird neben den Video-Sequenzen und Dialogen mit NPCs auch darüber erzählt, dass wir mit unserem Handschuh quatschen. 

    Überraschend entschleunigtes Shooter-Gameplay

    Es mag auch ein bisschen eine billige Erklärung sein, aber immerhin erklärt das anfangs erwähnte Polymer gut, warum wir extreme Mengen an Ausrüstung mit uns schleppen, extrem viele Waffen und Munition zur Verfügung gestellt bekommen und extrem viele Kräfte über unseren Handschuh entfesseln können. Alles wird in "Atomic Heart" aus Polymer erschaffen – und erzählerisch will man da auch gar nicht mehr in die Tiefe gehen. Das mag nicht alle Shooter-Fans befriedigen, immerhin gibt es aber einen Grund für die Gameplay-Mechaniken, auch wenn ein sich in alles verwandelnde Material nicht der beste ist.

    Die Kämpfe in "Atomic Heart" sind der nächste Punkt, der gewaltig überrascht. Erwartet hätten wir blitzschnelle Schießereien mit flinken Gegner-Massen – bekommen haben wir aber für Shooter-Verhältnisse eher taktische und durchaus fordernde Kämpfe mit knackigen Gegner, die eher auf Klasse denn auf Masse setzen. Die einzelnen Feinde reagieren recht intelligent auf unsere Angriffe und erfordern einen Mix aus Draufballern und den Einsatz unserer Spezialfähigkeiten. Auch Munitions-Management ist in den actiongeladenen Kämpfen ein Muss, denn für wilde Schuss-Orgien gibt es nie genug Nachschub. 

    Großes Waffen-Arsenal – das ständig gewechselt wird

    Eine Prise "Assassin's Creed" kommt auch ins Spiel – an viele Standard-Feinde dürfen wir uns heranschleichen und sie, sollten sie uns nicht bemerken, per Sofort-Kill ausschalten – bei stärkeren Maschinen funktioniert das aber nicht mehr. Neben Munition lassen unsere Maschinen-Feinde auch Materialien fallen, mit denen wir Waffen und Handschuh aufrüsten und Items wie Heilgegenstände herstellen. Der Waffen-Mix ist abwechslungsreich, von der Starter-Axt bis zu Raketenwerfern. Das Arsenal ist dank auffindbarer Blaupausen groß, Munitionsknappheit à la "Doom" zwingt zum ständigen Waffen-Wechsel.

    Anders als viele Shooter motiviert aber "Atomic Heart" Spieler nicht nur durch die tollen Upgrade-Möglichkeiten und die Munitions-Knappheit, immer mal wieder die Waffe zu wechseln, sondern auch die Feinde mit ihren unterschiedlichen Schwachstellen sind mehr oder weniger anfällig für bestimmte Waffen-Typen. Neben den klassischen Waffen darf man auch die Spezialkräfte einsetzen, die sich durch das ebenfalls sammelbare Polymer-Material freigeschaltet und verstärkt werden. Auch hier ist die Auswahl abwechslungsreich – zerstörerische Stromstöße oder "Dead Space"-ähnliche Stase inklusive.

    "Atomic Heart" im Test – Hype-Shooter mit Herz

    Klasse gelöst: "Verskillen" beziehungsweise falsche Upgrades und Fähigkeiten freischalten kann man nicht, denn in beiden Fällen können die eingesetzten Materialien und Punkte ohne Verlust zurückerhalten und in andere Fähigkeiten und Waffen gesteckt werden. Gar keine Mankos? In den Details findet sich dann doch noch etwas Platz für Kritik. Etwa, weil die drei wählbaren Schwierigkeitsgrade recht durchwachsen ausgefallen sind. So ziehen sich die Schwierigkeitsgrade nicht konstant durch das Game, im leichtesten Modus sind bereits einige Feinde zum Verzweifeln dabei, im schwerstens dafür umgekehrt.

    Auffällig ist auch, dass uns das Spiel mit einem seltsamen Loop an wiederauferstehenden Feinden konfrontiert – Drohnen reparieren nämlich ohne Unterlass besiegte Roboter, die uns in einer Endlos-Schleife angreifen. Das passiert aber nur, wenn wir stur an einem Ort verharren, statt zum nächsten Missionsziel zu laufen – aufgrund der Munitions-Knappheit hält es uns aber sowieso nie am selben Platz. "Atomic Heart" ist ein Hype-Shooter mit ganz viel Herz und innovativen Ideen. Vor allem die Atmosphäre und die Spielwelt begeistern, die technisch saubere Umsetzung und das Gameplay überzeugen ebenso.