Coronavirus

Schweden warnen: "Macht nicht das, was wir getan haben"

Wem die Corona-Maßnahmen nicht passen, der verweist gerne auf das Modell von Schweden. Doch genau davor warnen nun schwedische Ärzte und Forscher.

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    Auf der bei Touristen beliebten Insel Gotland (Schweden) wurden zwei "Coronavirus-Ritter" angeheuert, die die zahlreichen Besucher an Mindestabstand und Handhygiene erinnern sollen (23. Juli 2020)
    Auf der bei Touristen beliebten Insel Gotland (Schweden) wurden zwei "Coronavirus-Ritter" angeheuert, die die zahlreichen Besucher an Mindestabstand und Handhygiene erinnern sollen (23. Juli 2020)
    picturedesk.com/AFP/Soren Andersson

    Während Nachbarländer wie etwa Dänemark einen radikalen Lockdown mit der Schließung von Schulen, Kindertagesstätten, Restaurants, Bars und öffentlichen Einrichtungen anordneten, gab es in Schweden solche Maßnahmen fast gar nicht. Die Regierung hatte lediglich an die Eigenverantwortung der Bürger appelliert. Man solle sich die Hände waschen und genug Abstand halten.

    "Es funktioniert nicht"

    ➤ "Die in Schweden haben nichts falsch gemacht", erklärte kürzlich der Schweizer Mediziner Pietro Vernazza, Chefarzt der Klinik für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen, in einem Interview mit der "SonntagsZeitung". Man könne zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht sagen, welche Strategie – die des Rests der Welt oder die von Schweden – besser sei.

    Anders sehen das offenbar 25 Mediziner und Wissenschaftler, die in dem skandinavischen Land zu Hause sind. In einem offenen Brief, der auf "USAtoday.com" erschienen ist, warnen sie davor, es ihnen nachzumachen: "Geht nicht den schwedischen Weg", heißt es darin. "Es funktioniert nicht."

    Was steckt hinter der Strategie?

    Warum sich die schwedische Gesundheitsbehörde für den lockeren Ansatz entschieden und diesen durchgezogen hat, sei nach wie vor rätselhaft. "Andere Länder, die diese Strategie zunächst auch eingeschlagen haben, haben sie schnell wieder aufgegeben, als die Zahl der Todesopfer anstieg", so die Gesundheitsexperten. Stattdessen hätten sie sich für Lockdowns entschieden – wenn auch verzögert. Schweden dagegen sei seiner Strategie treu geblieben.

    Offenen Brief von 25 Experten

    Die Verfasser vermuten, dass es dabei stets um die Schaffung einer Herdenimmunität gegangen sei. Das würde erklären, warum die Regierungsbehörde die Schulen offen gelassen, die Bedeutung von Covid-19-Tests lange heruntergespielt haben und die Bedeutung einer asymptomatischen Ausbreitung des Virus nicht anerkannt worden sei.

    Zwar sei die Zahl der Testungen erhöht worden, doch die anhaltende Ablehnung einer Maskenpflicht sei ein weiterer Beweis dafür, dass Schweden an einer Herdenimmunität arbeite. Und das, obwohl die Weltgesundheitsorganisation diese als Strategie verurteile, so die Autoren des Briefs.

    Mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen?

    Ob bewusst angepeilt oder bloßer Nebeneffekt: Von einer Herdenimmunität sei das Land noch weit entfernt: "Der Anteil der Schweden, die Antikörper in sich tragen, wird auf unter 10 Prozent geschätzt." Deutlicher höher – geradezu "beunruhigend" – sei dagegen die Todesrate im Land: "In Schweden ist die Zahl der Todesopfer höher als in den USA: 556 Todesfälle pro Million Einwohner gegenüber 425, Stand 20. Juli."

    ➤ Es sei möglich, dass die Verantwortlichen tatsächlich der Ansicht waren, dass der schwedische Ansatz der nachhaltigste sei und dass die anderen Länder, die in den Lockdown gingen, es schlechter machen würden.

    "Vielleicht ist dies der Hauptgrund dafür, dass die Behörden verzweifelt an ihrer Strategie festhalten, und nicht die Herdenimmunität", so die Gesundheitsexperten weiter. "Vielleicht spielt bei diesem Widerstand gegen den Wandel auch die mangelnde Bereitschaft, frühe Fehler zuzugeben und die Verantwortung für Tausende von unnötigen Todesfällen zu übernehmen, eine Rolle."

    "Zu viele sind gestorben"

    Schwedens Corona-Stratege Anders Tegnell hat zugegeben, dass der schwedische Sonderweg zu viele Todesopfer gefordert hat:

    ➤ "Wenn wir mit dem gleichen Wissen wie heute mit derselben Krankheit konfrontiert wären, würde unsere Antwort wahrscheinlich irgendwo zwischen dem liegen, was wir getan haben, und dem, was der Rest der Welt getan hat", so Tegnell Anfang Juni 2020 im Interview mit Swedish Radio.

    "Beispiel, wie man es nicht machen sollte"

    Das Resultat der schwedischen Strategie ist aus Sicht der Verfasser eindeutig: "Sie hat zu Tod, Trauer und Leid geführt." Zudem gebe es keine Anzeichen dafür, dass es der Wirtschaft in Schweden besser ergangen sei als in anderen Ländern.

    ➤ "Wir haben dem Rest der Welt ein Beispiel gegeben, wie man nicht mit einer tödlichen Infektionskrankheit umgehen sollte", sagen die Forscher.

    Ganz umsonst sei die schwedische Strategie aber auch nicht gewesen, so die Gesundheitsexperten: "Wir glauben, dass Schweden als Modell dienen kann, aber nicht in der Weise, wie es ursprünglich gedacht war. Es kann stattdessen als Kontrollgruppe dienen und die Frage beantworten, wie effizient freiwilliges Social Distancing und lockere Maßnahmen im Vergleich zu Lockdowns, konsequenten Tests, Contact-Tracing und dem Einsatz von Masken sind."

    Sie beenden ihren Appell mit den Worten: "Hoffentlich gibt es einen Impfstoff. Haltet bis dahin durch. Macht es nicht auf schwedische Art und Weise."