Gesundheit

Das wissen wir über den Corona-Impfstoff aus Russland

Russland hat mit "Sputnik V" den weltweit ersten Corona-Impfstoff zugelassen. Die finale Sicherheitsprüfung wurde dabei offenbar einfach übersprungen. 

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Corona-Impfstoff
Corona-Impfstoff
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Während Gesundheitsexperten aus aller Welt frühestens Ende 2020 mit einem Impfstoff rechnen, kündigte Russland bereits Ende Juli an, möglicherweise schon Mitte August ein Vakzin zuzulassen. Am 11. August gab Präsident Wladimir Putin nun im Staatsfernsehen bekannt, dass es so weit sei. Die russische Gesundheitsbehörde habe als erste in der Welt einen Impfstoff gegen das Coronavirus für die breite Verwendung freigegeben.

Das Vorpreschen der Russen hat einen schalen Beigeschmack. So erfolgte sie trotz der Warnung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass Russland nicht von den üblichen Methoden zur Prüfung eines Impfstoffs auf Sicherheit und Wirksamkeit abweichen sollte. Putin widersprach der mitschwingenden Unterstellung, internationale Kriterien außer Acht zu lassen: Der Impfstoff "funktioniert effektiv genug, bildet eine stabile Immunität und – ich wiederhole mich – hat alle notwendigen Tests durchlaufen". Sogar eine seiner Töchter habe das Präparat namens Gam-Covid-Vac Lyo genommen, zitiert ihn die "New York Times".

Doch was ist dran an Russlands Ankündigungen? Was an den Vorwürfen? Die wichtigsten Antworten im Überblick.

Um was für einen Impfstoff handelt es sich?

Gam-Covid-Vac Lyo wurde am Gamaleja-Institut für Epidemiologie in Moskau entwickelt und ist ein sogenannter Vektorimpfstoff, der auf Viren basiert, die dem Menschen nicht gefährlich werden können. Mithilfe dieser werden charakteristische Erbgutabschnitte des Erregers – im Fall des Covid-19-Vakzins Sars-CoV-2 – geimpft, die der Körper dann als fremd erkennt und Antikörper gegen sie bildet, die bei einem tatsächlichen Zusammentreffen mit dem Virus eine Infektion verhindern.

Der Ansatz ähnelt dem Impfstoff, der von der Universität Oxford und Astra-Zeneca entwickelt wurde. Im Fall von Gam-Covid-Vac Lyo kommen als Vektoren zwei verschiedene Adenoviren zum Einsatz. Diese Virenfamilie wird häufiger in der Impfentwicklung genutzt – auch im Zusammenhang mit anderen Coronaviren wie Mers.

Drei Arten von Impfstoff

Impfstoffe aus Viren-Eiweiß:
Einige Forscherteams arbeiten an einem Impfstoff aus Viren-Eiweiß, bei dem das Protein – und nicht das ganze Virus – die Immunantwort auslöst. Nach einem solchen Prinzip funktionieren etwa die Tetanus-, die Hepatitis-B- oder die Grippeimpfung.

Impfstoffe mit Virus-Transport: Eine zweite Gruppe forscht zu Impfstoffen mit sogenannten Vektorviren, auf denen auch der russische Impfstoff basiert. Das heißt: Sie pflanzen ins Erbgut harmloser Viren wie dem etablierten Impfvirus Vaccinia das Gen für das Spike-Protein von Sars-CoV-2 ein. Sie verkleiden es gewissermaßen. Wird dieses dann als Impfstoff injiziert, reagiert das Immunsystem so, als ob es sich um das echte Coronavirus handeln würde, und bildet Antikörper dagegen.

Impfstoffe aus Erbsubstanz: Dabei soll eine genetische Bauanleitung für das Spike-Protein des neuartigen Coronavirus gespritzt werden, wodurch das Immunsystem dazu gebracht werden soll, selbst Antikörper gegen Sars-CoV-2 aufzubauen. Mit dieser Methode arbeitet etwa das US-Unternehmen Moderna.

Welche Vor- und Nachteile hat die gewählte Methode?

Das Konzept wird seit einiger Zeit in der Impfstoff-Forschung angewendet und ist damit nicht mehr neu. Auch das Nutzen bereits bekannter Vektoren bringt den Vorteil, dass ihre Sicherheit schon in früheren Studien geprüft wurde. Zudem haben sie den Ruf, das Immunsystem zuverlässig zu stimulieren.

Allerdings besteht bei den Vektorimpfstoffen das Risiko, dass das Immunsystem des Geimpften auch die Vektoren selbst bekämpft, wodurch es zu Nebenwirkungen kommen kann. Es ist auch möglich, dass die Impfung nicht funktioniert. Jedoch lässt sich dieses Risiko minimieren – sofern sich der Hersteller dessen bewusst ist. Dafür muss der Impfstoff-Kandidat aber alle Phasen der Impfstoffentwicklung durchlaufen haben. Ob das im Fall von Russland geschehen ist, ist unklar.

Was ist über Wirksamkeit und Sicherheit des Stoffs bekannt?

Nicht viel. Während die Wettbewerber immer wieder über ihre Fortschritte berichteten, kamen die russischen Ankündigungen in den letzten Wochen für den Westen nahezu aus dem Blauen heraus. So wurden bisher keinerlei Daten aus großen klinischen Studien veröffentlicht. Wie «Spiegel.de» berichtet, ist bisher nur bekannt, "dass der Impfstoff seit Mitte Juni an 38 Personen erprobt wird" und im August beendet sein soll. Über die Ergebnisse der Arbeit ist noch nichts offiziell bekannt.

Es gibt lediglich die Aussagen von Kirill Dimitrijew, Leiter des Russischen Staatsfonds (der die Forschungsarbeiten des Gamaleja-Instituts finanziert), laut denen die Personen, die Gam-Covid-Vac Lyo erhalten haben, 21 Tage nach der ersten Dosis eine Immunität entwickelt hätten, die sich nach Erhalt der zweiten Injektion verdoppelt habe.

Wie werden Impfstoffe sonst getestet?

Bevor ein Impfstoff zugelassen wird, durchläuft er – nach ersten Prüfungen im Labor und an Tiermodellen – üblicherweise drei klinische Testphasen:

In Phase I erhält eine kleine Anzahl gesunder Freiwilliger das Mittel. An ihnen wird untersucht, ob das Immunsystem reagiert und welche Nebenwirkungen auftreten. Auch Dosierungen können getestet werden.

In Phase II werden Impfungen auch an vorerkrankten Menschen erprobt. Zudem wird geprüft, ob das Medikament die Krankheit sicher verhindern kann. Mitunter werden Phase I und II kombiniert, um Zeit zu sparen. Das ist auch bei der ersten russischen Corona-Impfstoff-Studie der Fall.

Ob ein Mittel tatsächlich zugelassen wird, darüber bestimmt das Ergebnis aus den Phase-III-Studien. In diesen bekommen Zehntausende Freiwillige den Impfstoff verabreicht, um seine Wirkung und Sicherheit zu bestätigen.

Welche Nebenwirkungen hat der russische Impfstoff?

Angeblich keine. Das ist allerdings unwahrscheinlich. Denn praktisch alle Impfungen, die gespritzt werden, rufen Rötungen oder leichte Schmerzen an der Einstichstelle hervor. Zwar sind das keine dramatischen Komplikationen, sie müssen aber dokumentiert werden, schreibt "Spiegel.de". Geschehe dies nicht, stimme dies skeptisch. Auch die Angabe, der Entwickler des Präparats, Alexander Ginzburg, habe sich die Impfung selbst verabreicht, um die Sicherheit hervorzuheben, ändert daran nichts.

Um Aussagen über die Verträglichkeit und Wirksamkeit in der gesamten Bevölkerung – auch bei älteren Menschen oder solchen mit Vorerkrankungen – treffen zu können, fehlen aussagekräftige Tests.

Die Verantwortlichen geben laut "New York Times" auch keine Auskunft darüber, ob sie ausschließen können, dass die Injektion die Geimpften nicht schütze, sondern sie sogar für einen schweren Covid-19-Verlauf anfälliger machen könnte. Das ist eine Möglichkeit, die Forscher außerhalb Russlands nach eigenen Angaben noch nicht ausgeschlossen haben.

Sind die Russen Versuchskaninchen?

Nicht alle Russen. Der Gesundheitsminister des Landes, Michail Muraschko, hat für Oktober den Start einer Massenimpfkampagne angekündigt, die mit Lehrern und medizinischem Personal beginnen wird. Rund 800 Personen sollen demnach teilnehmen, um die Ergebnisse aus der ersten Studie zu bestätigen. Das widerspricht dem anerkannten Vorgehen bei der Impfstoff-Entwicklung.

Was verspricht sich Russland davon?

Kirill Dmitrijew machte gegenüber dem US-Sender CNN deutlich, wie sehr Russland darauf hoffe, das erste Land mit einem geprüften Impfstoff zu sein. Er sprach dabei von einem "Sputnik-Moment", wie der "Tages-Anzeiger" schreibt. Dabei handelt es sich um eine Anspielung auf den ersten künstlichen Satelliten, den Moskau 1957 ins Weltall schoss, und das Wettrennen um die Weltraumfahrt zwischen der damaligen Sowjetunion und den USA, das sich anschloss. Entsprechend soll der Handelsname "Sputnik V" lauten.

Die so frühzeitige Zulassung in Russland könnte zu einem Symbol des Nationalstolzes werden, so die "New York Times". Experten weltweit sind besorgt, dass Russland aus politischen oder propagandistischen Gründen im Wettlauf um den ersten Corona-Impfstoff ein zu hohes Risiko eingeht und Sicherheitsstandards vernachlässigt.

US-Seuchenexperte Anthony Fauci sagte Anfang des Monats etwa, er hoffe, dass die Russen ihre Impfstoffe testen, bevor sie sie der Bevölkerung verabreichen.

Welche Folgen könnte die Eile für Menschen außerhalb Russlands haben?

Fachleute befürchten, dass ein leichtfertig zugelassenes Mittel, das sich später als unwirksam oder zu riskant herausstellt, das Vertrauen in einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 und Impfungen im Allgemeinen schwächen würde.

Was hat es mit dem Vorwurf des Ideenklaus auf sich?

Dieser wirft einen weiteren Schatten auf den angeblichen medizinischen Durchbruch der Russen. So werfen die Geheimdienste mehrerer Länder – darunter die USA, Kanada und Grossbritannien – russischen Hackergruppen vor, Cyber-Angriffe auf Impfstoff-Forscher getätigt zu haben. Auch der russische Geheimdienst soll involviert sein.

Russische Beamte haben die Beschuldigung stets bestritten: Ihr Impfstoff basiere auf einem Design, das von russischen Wissenschaftlern vor Jahren zur Bekämpfung von Ebola entwickelt wurde. Auch Kirill Dmitriew bestritt, dass Russland bei Tests gespart oder geistiges Eigentum gestohlen habe, um voranzukommen. In einem Interview sagte er, Russland stütze sich auf das Erbe der einst beeindruckenden Viren- und Impfstoff-Forschung in der Sowjetunion.