Österreich

Gewalt an Frauen: "Das ist die Ruhe vor dem Sturm"

Heute Redaktion
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Maria Rösslhumer (Autonome Österreichische Frauenhäuser) erklärt im Gespräch mit "Heute", dass erst "Phase Zwei" das Ausmaß an Gewalt zeigen wird.

Morde, Vergewaltigungen, Gewalt – weltweit schlagen Frauenorganisationen in der Coronakrise Alarm. In einem Gespräch mit "Heute" erzählt die Expertin Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin der österreichischen Frauenhelpline 0800/222 555 und des Vereins Österreichische Frauenhäuser über den Anstieg der häuslichen Gewalt in Zeiten von Corona, über Zwangsheirat, Prostitution und, dass die Zahlen wohl noch weiter steigen werden.

Global gesehen ist zeitgleich mit dem Thema "Lockdown" in den unterschiedlichen Ländern auch das Thema der häuslichen Gewalt leider omnipräsent geworden. Vereine und NGOs und auch das UN-Flüchtlingskommissariat warnten vor einem Anstieg der Gewalt gegen Frauen. Wie sieht die Situation in Österreich aus?

Maria Rösslhumer: In Österreich haben wir einen Anstieg bei der Frauenhelpline von bis zu 70 Prozent. Normalerweise haben wir 21 bis 22 Anrufe täglich, derzeit zählen wir bis zu 38 pro Tag. Das scheint nicht viel zu sein, aber es ist ein Anstieg - denn jeder Anruf steht im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt.

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Die österreichische Frauenhelpline verzeichnet einen Anstieg. Foto: Reuters

Ich weiß auch, dass die spanische Frauenhelpline 016 einen Anstieg von 500 % in der Zeit des Lockdowns erreichte. Ich stehe mit dem Chef der spanischen Helpline in engem Kontakt. In Spanien haben die Frauen zusätzlich eine Art Geheimcode für "Ich brauche Hilfe". Sie gehen in die Apotheke, bestellen eine "Covid-19 Maske", woraufhin die Apotheker die Notlage erkennen und die Polizei informieren. In Italien gibt es diesen Notruf sogar in den Supermärkten.

Wir setzen in Österreich und vor allem in Wien auch auf die Hilfe der Nachbarn. Es gibt ein Info-Blatt, welches in den Wohnhäusern aufgehängt werden kann.

Zusätzlich steht unsere Online-Chat-Beratung unter www.haltdergewalt.at täglich von 15 bis 22 Uhr anonym, mehrsprachig und kostenlos zur Verfügung. Dort gibt es zum Beispiel einen Knopf, den man klicken kann, der die Besucher schnell auf eine andere Seite leitet. So können Frauen heimlich den Chat aufsuchen.

Wie sehen Sie den Vergleich zu anderen Ländern?

Es wäre gut, wenn es eine europaweite Erhebung geben würde. Ich denke, dass man hier erst in den nächsten Monaten mehr erfahren wird, wie die Situation wirklich aussieht. Man kann auf jeden Fall davon ausgehen, dass es eine europaweite Zunahme geben wird. In Frankreich (Helpline 3919) wusste man schon im März, dass häusliche Gewalt im ganzen Land um mehr als 30% gestiegen ist. Frankreich hat bereits eine der höchsten Raten häuslicher Gewalt in Europa. Nach offiziellen Angaben wird dort alle drei Tage eine Frau von einem Partner oder ehemaligen Partner getötet. Auch hier wurde ein Code für Frauen ins Leben gerufen, den Frauen in der Apotheke sagen können, wenn sie von ihrem gewalttätigen Partner begleitet werden. In Österreich wurde dieser Code nicht eingeführt. Ich hatte den Vorschlag jedoch beim Frauenministerium eingebracht.

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In Spanien gibt es einen Code für häusliche Gewalt in der Apotheke. Apotheker rufen dann für die Frauen die Polizei. Foto: picturedesk

In den Frauenhäusern gibt es zumindest in Österreich unterschiedliche Situationen. Manche bekommen vermehrt Anrufe, andere merken derzeit so gut wie gar nichts. Manche sind voll, andere Frauenhäuser nicht. Das hängt, meiner Meinung nach, nicht damit zusammen, dass die Gewalt nicht ansteigt. Ich denke, viele Frauen können derzeit schlichtweg nicht flüchten.

Was waren oder sind die besonderen Gefahren bei dem "Lockdown"? Können Sie konkrete Beispiele nennen, in welchen Situationen zum Beispiel das Gewaltpotenzial steigen könnte?

Wir hatten zum Beispiel den Fall einer Mutter, die auf einer Autobahnstation stand und die Frauenhelpline anrief. Sie hatte ihren elfjährigen Sohn abgeholt, der davor vier Wochen lang bei ihrem Ex-Mann war. Der Sohn wollte unbedingt zurück zu seiner Mutter, daraufhin sei der Mann aber ausgerastet.

Das Kind wurde in Angst und Panik versetzt. Die Mutter holte den Sohn schließlich ab und auf der Autobahnstation blieb sie stehen. Sie hatte Angst davor, von ihrem Ex-Mann verfolgt zu werden. Wir haben sie dann telefonisch versorgt! Wir haben sie beruhigt und telefonisch begleitet, bis sie zuhause war. 'Zuhause rufen Sie dann die Polizei, wir unterstützen Sie dabei', sagten unsere Berater.

Manche gewalttätige Männer dürfen ihre Kinder nicht alleine sehen, sondern nur in Begleitung von Betreuern des Jugend- oder Sozialamts. Sie können ihre Kinder nur in Besuchscafés

oder Familienberatungsstellen treffen, aber diese sind derzeit eben geschlossen. Deswegen ist es schwierig, Kinder den gewalttätigen Partnern zu überlassen. Eine Alternative wären hier Skype-Gespräche oder Telefonate. Aber man sollte die Kinder auf keinen Fall unter Druck setzen.

Warum lastet auf den Frauen in dieser Zeit ein noch viel größerer Druck? Welche Auswirkungen hat die fehlende Kinderbetreuung?



Das ist eine große Belastung, Kindergärten und Schulen sind geschlossen. Frauen müssen sich zumeist zusätzlich um die Hausarbeit und die Hausübungen kümmern. Die Nerven liegen blank. Mit pubertierenden Kindern ist es schwierig, die wollen raus und sind unruhig. Das ist bereits in normalen oder funktionierenden Beziehungen eine große Beunruhigung und wenn dann auch noch andere Probleme dazu kommen, kann es sehr viel schneller zur Eskalation kommen. Die Frauen bekommen meist keine Pause. Männer geben dann auch noch die Schuld der Frau, wenn die Kinder unruhig sind, oder die Hausübungen nicht machen.

Eine problematische Frage ist die nach den Wegweisungen. Die Wegweisung ist eine durch die Polizei ausgesprochene Anordnung, einen bestimmten Ort (in der Regel eine Wohnung) zu verlassen. Meistens erhalten gewalttätige Männer oder potenzielle Gewalttäter eine solche Wegweisung, gemeinsam mit der Verhängung eines Betretungsverbots für diesen Ort. Das heißt, sie müssen die Wohnung verlassen. Wie wird dieses Problem jetzt gelöst und was heißt das für die Opfer?

Man nennt das jetzt auch Annäherungsverbot. Er wird weggewiesen und darf für eine bestimmte Zeit eine Wohnung nicht betreten: Das sind immer 14 Tage! In dieser Zeit darf sich der Betroffene auf 100 Meter nicht nähern.

Wenn die Frau aber sagt, dass 14 Tage zu kurz sind, dann kann sie einen Antrag auf Verlängerung stellen. Das nennt man einstweilige Verfügung und diese wird dann automatisch auf ein, drei oder sechs Monate verlängert.

Laut Polizei gibt es hier eine kleine Erhöhung im Februar und im März. Es gebe mehr Wegweisungen. Das Problem ist, glaube ich, dass momentan nicht so viele weg gewiesen werden, weil es keine Unterkunft gibt. Vor Corona mussten Männer selbst eine Unterkunft finden und jetzt müsste die Polizei eine Unterkunft finden. Das ist eine Herausforderung, vor allem im ländlichen Bereich. Zum Beispiel auch Obdachlosenheime, die früher von diesen Männer besucht wurden in dieser Zeit, sind derzeit wegen der Corona-Infektion keine Option.

In ganz Österreich gab es im Februar 847 Wegweisungen, 961 im März. Man kann es schwer sagen, aber wir glauben, dass wenn die Lockerungen starten, werden sich auch mehr Frauen melden können.

Warum können die Lockdowns auch zu Zwangsheirat oder sogar zu Prostitution führen?

Ja, das kann schon sein. Weil Kinder zum Beispiel, also junge Mädchen, wenn sie nirgendwohin können, noch mehr unter Druck der Eltern geraten können. Wir wissen hier viel zu wenig. Die Eltern haben aber derzeit mehr Macht über die Mädchen. Normalerweise haben die Jugendlichen die Möglichkeit, in der Schule darüber zu sprechen. Lehrer oder andere Schüler können Vertraute werden und da kann es rechtzeitig, noch vor einer Zwangsheirat, zu einem Austausch kommen. Sie sagen beispielsweise: "Ich habe die Vermutung, dass ich verheiratet werde". Wo sollen diese Kinder und Jugendliche sich jetzt hinwenden, wenn die Schule zu ist? Das fehlt jetzt.

Prostitution kann auch von Frauen verlangt werden, wenn die Männer jetzt in dieser Krise ihren Job verloren haben. Sie zwingen ihre Frauen zur Prostitution, um Geld zu verdienen.

Wir glauben auch, dass sexuelle Gewalt in Zeiten von Corona ein großes Problem ist und vor allem ungewollte Schwangerschaften, weil die Betroffenen nun schwer einen Termin beim Arzt bekommen. Und auch Schwangerschaftsabbrüche sind nicht mehr so einfach durchzuführen, da Spitäler sich nur noch auf Corona konzentrieren. Wir befürchten, dass Frauen gerade jetzt, wo sie mit ihren Peinigern "eingesperrt" sind, aufgrund der sozialen Kontrolle nicht einmal ungestört telefonieren können und womöglich von ihren gewalttätigen Partnern am Gang zur Apotheke oder am Zugang zum Computer und damit zu Terminvereinbarungen mit einem Arzt gehindert werden. Häusliche Gewalt umfasst eben auch sexuelle Gewalt und Vergewaltigung. Wir fordern hier auch von der Bundesregierung, dass Verhütungsmittel ohne Arztbesuch kostenlos und ohne Rezept erhältlich sein werden. Auch der Zugang und die Kosten von Schwangerschaftsabbrüchen müssen erleichtert und übernommen werden.

Was raten Sie Frauen, die sich derzeit in schwierigen Situationen befinden?

Ich würde ihnen raten, zu versuchen alleine zu sein: beim Einkaufen, alleine spazieren zu gehen, damit sie in Ruhe telefonieren können und die Nummer der Frauenhelpline anrufen können. Und wenn sie nicht telefonieren können, dann sollen sie den Online-Chat kontaktieren oder auch eine Mail ([email protected]) schreiben. Und dann gibt es immer noch die Nachbarn. Man kann die Nachbarn konkret ansprechen und fragen, ob sie die Polizei kontaktieren könnten. Oder den Koffer bei der Nachbarin abstellen, damit Kinder und der Mann nicht den Koffer sehen. Die notwendigsten Dinge, wie Medikamente, Spielsachen und Pass, in den Koffer packen und bei den Nachbarn abstellen. Die Kinder sollten auch auf keinen Fall den Koffer sehen, sie verstehen das und sagen das dann vielleicht vor dem Vater.

Denken Sie, dass es mehr Frauen geben wird, die sich nach den Lockerungen bei Ihnen melden werden und wenn ja, warum?

Das ist zwar eine komplett neue Situation, aber es könnte ähnlich wie zu Weihnachten ablaufen. Wir sehen oft, dass sich Frauen vermehrt nach Weihnachten melden. Denn Frauen denken über die Feiertage, sie müssen durchhalten. Oft haben sie auch keine Möglichkeit, Hilfe zu suchen, da sie rund um die Uhr unter "Beobachtung" stehen. Daher nehmen wir an, dass sich zahlreiche Frauen erst danach melden können. Auch in China gab es nach dem Lockdown zahlreiche Scheidungen. Wir wissen nicht, was uns erwartet. Man kann zwar die Scheidung einreichen, aber derzeit werden sie ja nicht durchgeführt. Wir vermuten, dass es den Anstieg der Gewalt geben wird – mit einer Zeitverschiebung. Wir befinden uns also derzeit in der Ruhe vor dem Sturm.