"Meine kranke Schwester entging der Gaskammer"

Heute Redaktion
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Helga Mandelburger erzählt über ihre Zwillingsschwester, die beeinträchtigt zur Welt kam, weil Ärzte die Mutter wegen Hitlers Geburtstag bei der Geburt nicht versorgten. Dass ihre Schwester das Euthanasie-Programm der Nazis überlebte, ist ein Wunder. Ein Gespräch mit Maria Jelenko-Benedikt.

Ich treffe Helga Mandelburger, die gemeinsam mit ihrer körperlich beeinträchtigten Zwillingsschwester Melita gerade ihren 80. Geburtstag gefeiert hat, an einem warmen Apriltag im Gelände der MedUni Wien.

Hier sind die beiden Schwestern genau 80 Jahre zuvor auf die Welt gekommen. Wie durch ein Wunder ist Helgas Schwester der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten entkommen – Tausende Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung haben die Nazis systematisch ermordet, im Rahmen des "Euthanasie- oder Gnadentodprogramms". Das Leben dieser Menschen wurde als so genanntes "unwertes Leben" gesehen, beim Aufbau eines "Herrenvolkes" sollten Menschen keinerlei Makel aufweisen.

Mandelburger, selbst immer noch sehr fit, macht die Ärzte dafür verantwortlich, dass ihre ältere Zwillingsschwester kurz vor Hitlers Geburtstag mit einer Beeinträchtigung zur Welt kam: "Sie ist einfach zu lange im engen Geburtskanal gewesen, weil keine Hilfe da war." Das Krankenhauspersonal war an diesem Tag mit etwas Anderem beschäftigt: "Die Ärzte und Schwestern mussten ja beflaggen und schmücken, weil am 20. April war doch Hitlers Geburtstag. Das war ja wichtig. Die Patienten waren ja uninteressant".

So sei ihre Schwester „praktisch halb erstickt" zur Welt gekommen. Von Geburt an kann Melitta weder alleine sitzen, noch alleine stehen oder gehen. Seit 80 Jahren sitzt sie im Rollstuhl.

Wie die schwer kranke Melitta Hitlers Euthanasieprogramm überlebt hat? Es grenze an ein Wunder, dass die Mutter ihre Tochter unbeschadet über die Hitler–Ära gebracht hat, erzählt die 80-Jährige. Die Familie lebte damals in Hernals. "Es hat sie niemand angezeigt. Sonst wäre die Melita sicher vergast worden." Ihre Mutter hatte ihre Tochter rund um die Uhr gepflegt, baute für sie einen Spezialkinderwagen. Bei Fliegerangriffen floh die Familie in den Luftschutzkeller - samt der kranken Tochter. "Aber es war immer die Angst da, dass sie abgeholt wird, dass man ihr das Kind wegnimmt".

So groß war die Angst der Mutter, dass sie das Kind im Krieg nirgends angemeldet hat – Melitta war also vor dem Gesetz nicht existent. Nach dem Tod der Mutter übernahm Helga, die drei Töchter bekommen hat, die Verantwortung für ihre Zwillingsschwester, die in einem Heim untergebracht ist. Diese Verantwortung sollte ihr Leben nachhaltig prägen. "Sie hat keinerlei Zuschuss gekriegt. Zuerst musste ich erst bei den Ämtern geltend machen, dass meine Schwester überhaupt existiert", erzählt Helga Mandelburger.

Melita lebt heute in einer Betreuungseinrichtung, es geht ihr gut.

Das Interview ist Teil einer Zeitzeugen-Serie. Alle Zeitzeugen-Gespräche finden Sie auf www.heute.at/zeitzeugen

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