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Hochspannung in Athen vor Schicksalswahl

Heute Redaktion
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Klamme Finger, die Köpfe nach hinten gekippt und die Mäuler aufgerissen wie tote Fische. So liegen sie da, in einem Hauseingang, mitten in der Athener Innenstadt. Die abendliche Kühle hat der Kleinfamilie ein wenig Schlaf verschafft, einem jugendlichen Vater, seiner Frau und einem Kind von vielleicht fünf Jahren, das auf dem Schoß der Mutter kauert. Sie sind durch die Krise obdachlos geworden.

Griechenland wählt - und Europa schaut wie gebannt zu: Am Sonntag entscheiden die Hellenen über eine neue Regierung - die Abstimmung könnte den Austritt des Landes aus der Euro-Zone besiegeln. In Athen ist die Anspannung vor dem Urnengang groß.

Selbstmordrate gestiegen

Griechenland im Jahr 2012 ist ein hartes Pflaster. Die Sparmaßnahmen haben das soziale Gefüge an vielen Stellen platzen lassen. Selten saßen so viele Griechen auf der Straße, selten haben sich so viele umgebracht, auch wenn nicht jeder Suizid so erschüttert wie der des Pensionisten, der sich aus Geldsorgen vor wenigen Wochen vor dem Parlament selbst verbrannte.

Am härtesten trifft es die, die schon vorher wenig hatten. Die Stimmung nützt dem Linksbündnis SYRIZA, das eine Rücknahme der Sparmaßnahmen verspricht, und in Umfragen mit der konservativen Neuen Demokratie (ND) um den ersten Platz bei den Parlamentswahlen ringt.

Endspurt im Wahlkampf

Neben der schlafenden Familie putzt eine Gruppe älterer Männer mit einer ätzenden Flüssigkeit anarchistische Graffiti von den Rollläden einer Bank. Der laue Abend hat viele Nachtschwärmer auf die Straße getrieben. An den Straßenecken riecht es nach gebrannten Mandeln, die von alten Männern aus kleinen Ständen heraus verkauft werden.

Aus Lautsprechern auf den Plätzen der Stadt schallen Wahlslogans. Mehr als 27 Gruppierungen treten bei der Wahl am Sonntag an, und jede versucht bis zur letzten Minute, ihre Botschaft unter die Leute zu bringen und ihre Wähler zu mobilisieren.

SYRIZA in Athen voran

Auf dem Omonia-Platz macht SYRIZA Wahlwerbung. Keine Partei hat unter den Athenern so viele Anhänger wie sie - beim letzten Wahlgang gewann sie die Hauptstadt und deren Umfeld für sich, bei der Neuwahl dürfte ihr Stimmenanteil in der Millionenstadt weiter wachsen.

Sozialisten als Verlierer

Ihre Wähler versprechen sich von der Linkspartei nicht nur eine sozialere Politik, sondern eine Abkehr vom alten politischen System. "SYRIZA ist einfach eine neue Kraft, die können was verändern", sagt Stavros, der Kellner des nahegelegenen Café Brazil. Früher habe er die PASOK gewählt, erklärt der Mittvierziger. Aber die Sozialisten hätten sich und ihr Umfeld bereichert und dann in der Krise die Bevölkerung mit Sparmaßnahmen bestraft.

Die Einstellung ist weit verbreitet. Die Wut auf die Traditionsparteien könnte auch zur Achillesferse der Konservativen werden, die sich lange Jahre mit der PASOK an der Macht abwechselten.

"Die ND und PASOK belügen uns sein dreißig Jahren", sagt Fotis, der eine Kneipe am Hafen Piräus betreibt. Der Mittdreißiger und sein Freund George vertreiben sich am Nachmittag bei einem Kaffee die Zeit. Kunden kommen wenige - die Krise habe eingeschlagen, erklärt Fotis, außerdem sei es zu heiß, um nach draußen zu gehen.

Über der Stadt liegen drückende dreißig Grad, und die Politik ist in aller Munde. Auf Fernsehkanälen sind fast im Stundentakt weitere TV-Debatten zu sehen, und auch in den Geschäften und der U-Bahn tauschen die Menschen ihre Meinung aus.

"Vielleicht nicht für die EU bestimmt"

In der Bar in Piräus ist man sich einig, dem charismatischen SYRIZA-Chef Alexis Tsipras die Stimme zu geben. Auch wenn das unter Umständen schlimme Konsequenzen habe. "Etwas muss passieren", sagt Georg, ein bärtiger Endzwanziger. "Vielleicht ist Griechenland ja nicht für die EU bestimmt. Wir wollen drinnenbleiben, aber wenn es nicht geht, dann gehen wir halt raus".

"Ich hasse Politiker"

Die Politik hat auch diejenigen erreicht, die sich nicht für sie interessieren. "Ich hasse alle Politiker", sagt Maria. "Sie sind schuld daran, dass unser Land ruiniert ist". Die junge Frau sitzt auf einer Bank in der Altstadt in der Sonne, in der einen Hand ein Iphone, in der anderen einen Becher Eiskaffee.

Sie habe noch nie gewählt und wisse auch nicht, ob sie am Sonntag hingehe. Aber sie werde jeden Tag mit neuen schlechten Nachrichten konfrontiert, von Freunden, die arbeitslos werden. Und auch sie selbst fürchtet, nach ihrem Praktikum in der Personalabteilung einer Mineralölfirma keinen Job zu bekommen. Vielleicht gehe sie doch wählen, fügt sie hinzu.

Vor allem Ältere sind verunsichert

Während die jüngeren Wähler in Athen sich den Linken zuwenden, bleiben einige Ältere verunsichert zurück. Sie wissen nicht, wer das Land noch aus der Krise führen könne, sagt die 80-jährige Sofia. Sie wünsche sich, dass jemand die sozial Schwächeren schütze, und das Geld gerecht im Land verteile. Aber, sagt sie, das Land müsse sich seinem Schicksal stellen: "Die Schulden müssen bezahlt werden".

Ärger über Wahlempfehlung der FTD

Eine Wahlempfehlung der "Financial Times Deutschland" hat in Griechenland für Empörung gesorgt. "Widerstehen Sie der Demagogie von Alexis Tsipras und seiner Syriza", hieß es in einem Leitartikel der Zeitung, der am Freitag auf Deutsch und auf Griechisch auf der Titelseite abgedruckt war.

Das Blatt empfahl den Griechen stattdessen die Wahl der konservativen Nea Dimokratia, damit ihre Heimat "geordnet regiert" werde. "Sorgen Sie für klare politische Verhältnisse. Stimmen Sie mutig für den Reformkurs statt zornig gegen notwendige, schmerzhafte Strukturveränderungen."

"Angriff auf nationale Würde"

Der Leitartikel sei ein Angriff auf die "nationale Würde" und versuche, die Demokratie zu untergraben, konterte das Linksbündnis Syriza in einer Erklärung. Nach dieser "provokanten und unverschämten Aktion" fehle nur noch, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) am Sonntag persönlich die Wahlzettel für die Konservativen austeilten, erklärte der Syriza-Politiker Dimitris Papadimoulis.

Auch die Nea Dimokratia reagierte empört: "Wir sind ein stolzes Volk (...), wir wollen keine Ratschläge (...), wir wollen keine Provokationen und Intrigen", erklärte ein Sprecher.

"Entscheid zwischen Drachme und Euro"

Der griechische Konservativen-Chef Antonis Samaras hat die Parlamentswahlen am Sonntag als "Entscheid zwischen Drachme und Euro" bezeichnet. Bei einer Kundgebung vor tausenden Anhängern am Syntagma-Platz in Athen warnte er die Griechen Freitagabend eindringlich davor, für das Linksbündnis SYRIZA zu stimmen.

Die Linkspartei werde die Sparauflagen von EU und IWF aufkünden und Griechenland aus dem Euro führen, sagte Samaras. Seine Neue Demokratie (ND) und das Linksbündnis liegen in Umfragen Kopf-an-Kopf.

Euro-Austritt "Katastrophe"

Der Konservativen-Chef nannte die ökonomischen Konsequenzen eines Euro-Austritts eine "Katastrophe", die Griechenland um 50 Jahre zurückwerfen würde. Der Lebensstandard würde um zwei Drittel fallen und es gebe "bulgarische Löhne" für griechische Arbeit.

APA/red.